Mehr als nur ein halbes Leben
loszufahren, aber ich habe Nein gesagt. Bob und ich können beide nicht Snowboard fahren, daher werden wir ihm auf der Piste (vorausgesetzt, ich werde je wieder auf die Piste kommen) keine Hilfe sein können. Also muss er die Grundlagen richtig erlernen, und ich bin überzeugt davon, dass man dafür länger als einen Tag benötigt. Er behauptet, er habe es drauf und dass der heutige Unterricht langweilig sein wird, aber Charlie besitzt grundsätzlich mehr Selbstvertrauen als Können – und sogar noch mehr Ungeduld –, und ich will nicht, dass er sich den Hals bricht. Dann hat er es mit Schmollen versucht, aber ich habe keinen Zentimeter nachgegeben. Danach hat er probiert, Lucy auf seine Seite zu ziehen, in der Hoffnung, sich mit ihr zu verbünden und mich zu zermürben, aber Lucy gefällt ihr Kurs. Sie ist vorsichtig und sozial und zieht es vor, unter den wachsamen Blicken und dem begeisterten Ansporn ihrer Lehrer zu sein. Als ihm schließlich klar wurde, dass er nur die Wahl zwischen dem Unterricht oder gar nichts hatte, gab er auf, aber er hat mir meinen »Coolste Mom aller Zeiten«-Status aberkannt. Immerhin hatte ich ihn für einen Tag.
Jetzt sitze ich am Küchentisch und male ein Bild des Gartens mit den Ölfarben aus dem wundervollen Künstler-Malkasten, den mir meine Mutter zu Weihnachten geschenkt hat. Von außen ist der Kasten nur ein glatter, schlichter Holzkoffer, aber darin befinden sich Reihen mit Ölfarben, Pastellstiften, Acrylfarben, Kohlestiften und Pinseln – ein Fest der Farben und kreativen Möglichkeiten. Ich habe mir ein paar klebrige Kleckse aus Lampenschwarz, Titanweiß, Kadmiumgelb, Ultramarinblau, gebrannter Siena, ungebrannter Umbra, Alizarinrot und Phthalogrün auf meine Glaspalette gedrückt und mit meinem Palettenmesser aus rostfreiem Stahl so viele Kombinationen wie möglich gemischt. Aus manchen meiner Mischungen sind nur Schlammtöne entstanden, aber andere haben sich wie durch göttlichen Zauber zu neuen Farben vermischt, die frisch, leuchtend und lebendig sind.
Die Landschaft unseres Gartens sieht ohnehin wie ein Ölgemälde aus, daher fällt es mir leicht, mich inspirieren zu lassen – das schneebedeckte Feld, in der Ferne bewacht von Ahornbäumen und Kiefern, die sanft geschwungenen Hügel dahinter, der bewölkte blaue Himmel darüber, unser leuchtend rostrot gestrichener Schuppen und der alte kupfergrüne Wetterhahn, der auf seinem Dach sitzt. Es ist Jahre her, dass ich einen Pinsel in der Hand gehalten habe, aber es kommt mühelos wieder wie Fahrradfahren (auch wenn ich sicher bin, dass Fahrradfahren für mich im Augenblick nicht das beste Beispiel ist). Beim Malen geht es ausschließlich ums Sehen. Es geht darum, über die schnellen und oberflächlichen Annahmen, die die Augen und der Verstand normalerweise treffen, hinwegzusehen und zu erkennen, was wirklich da ist. Es geht darum, sich für jedes Detail Zeit zu nehmen. Ich sehe den Himmel, der nicht einfach nur blau ist, sondern aus vielen Blautönen, Weiß und Grau besteht – am weißesten ist er da, wo er die Hügel berührt, und am blauesten dort, wo er hoch oben über den Wolken steht. Ich sehe die drei unterschiedlichen Rottöne auf dem Schuppen, erschaffen aus Sonnenlicht und Schatten, und die Schatten der Wolken, die wie rußige schwarze Gespenster über die Hügel tänzeln.
Ich betrachte meine Leinwand und lächle, zufrieden mit dem, was ich entworfen habe. Dann werfe ich meinen Pinsel in das Gurkenglas mit den anderen Pinseln, die ich bereits benutzt habe, und stelle die Leinwand zur Seite, um sie trocknen zu lassen. Ich schlürfe meinen Kaffee, der inzwischen eiskalt ist, und lasse den Blick auf der Landschaft ruhen. Nach ein paar Minuten habe ich genug vom Anblick des Gartens und will irgendetwas anderes tun. Meine Mutter müsste bald wieder zu Hause sein. Sie hat mir gesagt, dass ich nicht durchs Haus laufen soll, solange sie fort ist, und obwohl ich mich wirklich gern aufs Sofa legen würde, habe ich meine Lektion gelernt, als ich dieses eine Mal zum Kühlschrank »gelaufen« bin. Also beschließe ich, meine nächste Aktivität auf etwas zu beschränken, was ich von dort aus tun kann, wo ich sitze.
Die Sonntagsausgabe der New York Times liegt auf dem Tisch, so, dass ich gut drankomme. Ich ziehe sie zu mir herüber und beginne Teile herauszunehmen, suche nach dem Wochenrückblick. Zwischen den zusammengelegten Seiten finde ich das People -Magazin meiner Mutter. Ich nehme es in die Hand und betrachte
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