Mehr als nur ein halbes Leben
das Titelbild. Das Vor-dem-Unfall-Ich kann nicht glauben, dass ich es tatsächlich in Erwägung ziehe. Aber was soll’s. Sehen wir doch mal, was Angelina Jolie so treibt.
Ich schiebe die Zeitung beiseite und schlage die Zeitschrift auf, werfe einen beiläufigen Blick auf die Fotos von Stars und die kurzen Texte, die erklären, wer mit wem zu sehen ist. Ich bin irgendwo auf den ersten Seiten, als meine Mutter ins Wohnzimmer platzt, keuchend und schnaufend, Linus auf ihrer Hüfte.
»Alles okay mit dir?«, frage ich.
»Er wird allmählich so schwer«, stöhnt meine Mutter.
Er ist schwer, der Größe und Form nach einem Thanksgiving-Truthahn ähnlich, aber tatsächlich hat er ein bisschen abgespeckt, seit er laufen lernt. Meine Mutter setzt Linus auf dem Boden ab, zieht ihm die Stiefel aus und den Reißverschluss seiner Jacke auf. Dann atmet sie einmal tief und befreit durch und sieht zu mir herüber. Ihre Miene hellt sich auf.
»Aha!«, sagt sie, als sie mich auf frischer Tat ertappt.
»Ich weiß, ich weiß.«
»Ist das nicht toll?«
»Toll ist ein bisschen übertrieben.«
»Oh, ich bitte dich, es ist witzig. Nenn es ein heimliches Laster. Es spricht nichts dagegen, auch mal ein bisschen nur zum Vergnügen zu lesen.«
»Die Sunday Times bereitet mir Vergnügen.«
»Oh, ich bitte dich! Deine Miene, wenn du dieses Ding liest, ist gequälter als Charlies an seinem schlimmsten Hausaufgabentag.«
»Wirklich?«
»Ja, du siehst aus, als wärst du beim Zahnarzt.«
Hm.
»Aber ich kann die New York Times nicht durch People ersetzen. Ich muss immer noch die Nachrichten mitbekommen.«
»Das ist ja schön und gut, aber das hier kann auch eine gute Übung für dich sein. Nenn mir zum Beispiel alle Leute, die auf dieser Seite zu sehen sind«, sagt sie, über meine Schulter gebeugt.
»Renée Zellweger, Ben Affleck, diese Frau da kenne ich nicht – und Brad Pitt.«
»Katie Holmes, verheiratet mit Tom Cruise. Sonst noch jemand?«
Ich sehe mir die Seite noch einmal an.
»Nein.«
»Irgendjemand neben Brad Pitt?«, fragt sie in einem koketten Ton, der mir verrät, dass die Antwort nicht Ja oder Nein lautet, sondern sie wissen will, wer es ist.
Ohne dass ich erst zu sehen versuche, wer dort ist, gehe ich nach der Wahrscheinlichkeit und tippe auf gut Glück.
»Angelina.«
»Nein«, sagt sie und fordert mich mit ihrem Tonfall auf, es noch einmal zu versuchen.
Hm. Ich sehe sonst niemanden. Okay. Sieh nach links, such links, geh nach links. Ich tue so, als würde ich nach meinem roten Lesezeichen suchen, obwohl ich es nicht hier habe. Oh mein Gott. Sieh dir das an. Da ist er.
»George Clooney.«
Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn übersehen könnte, nicht einmal mit einem Schädel-Hirn-Trauma.
»Ja, das wird eine gute Übung für mich sein.« Ich freue mich über Georges schelmische, lächelnde Augen.
»Gut, ich bin stolz auf dich«, lobt meine Mutter.
Sie hat noch nie gesagt, dass sie stolz auf mich ist. Nicht, als ich das College abschloss, nicht, als ich für die Harvard Business School zugelassen wurde, und nicht in Bezug auf meinen beeindruckenden Job oder meine nicht ganz so beeindruckenden, aber trotzdem ganz passablen mütterlichen Fähigkeiten. Sie sagt mir das erste Mal, dass sie stolz auf mich ist, als ich ein People -Magazin lese. Das ist vielleicht das Seltsamste, worauf je eine Mutter oder ein Vater stolz gewesen ist.
»Sarah, das ist wunderschön«, wendet meine Mutter ihre Aufmerksamkeit jetzt meinem Bild zu.
»Danke.«
»Wirklich, du hast Talent. Wo hast du das denn gelernt?«
»Ich habe auf dem College ein paar Kurse besucht.«
»Du bist wirklich gut.«
»Danke«, sage ich noch einmal, während ich ihre Miene betrachte. Sie scheint entzückt zu sein von dem, was ich gemalt habe.
»Mir gefällt sogar, wie bei den Dingen die linke Seite fehlt oder verblasst.«
»Wo denn?«
»Überall.«
Sieh nach links, such links, geh nach links. Mit meiner rechten Hand finde ich den linken Rand der Leinwand und lenke meine Aufmerksamkeit dann von links nach rechts über das Bild. Das Erste, was mir auffällt, ist der Himmel – eine völlig unberührte weiße Leinwand am linken Rand, die allmählich in ein wolkiges Grau übergeht und schließlich zu einem fast klaren Tagesblau wird, als ich den rechten Rand erreiche. Es sieht fast aus, als würde sich ein morgendlicher Nebel von links nach rechts über dem Horizont auflösen. Die Ahornbäume haben auf der linken Seite keine Äste, die Kiefern nur
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