Mehr als nur ein halbes Leben
weiß ja, dass du diesen Tick mit der Sunday Times hast, aber es gibt leichtere Methoden, um an die Nachrichten zu kommen und dein Lesen zu üben.«
»Sag mir bitte nicht, dass im People -Magazin Nachrichten stehen.«
»Ich meine ja nur. Das hier könntest du heute noch zu Ende lesen.« Sie blättert betont eine Seite um.
Sie kapiert es nicht. Es geht nicht darum, einfach irgendetwas zu lesen oder den leichten Weg zu gehen. Es geht darum, das zu lesen, was ich normalerweise auch lesen würde. Beim Lesen der Sunday Times geht es darum, mein Leben zurückzubekommen.
»Du wirst nichts über Angelina Jolie wissen, wenn du das alles gelesen hast«, feixt meine Mutter.
»Ich werd’s überleben«, entgegne ich.
Meine Mutter grinst noch immer über ihren kleinen Witz, während sie eine durchsichtige Plastik-Pillendose öffnet, sich eine Handvoll weißer und gelber Pillen in die hohle Hand schüttet und jede einzeln mit einem Schluck Tee nimmt.
»Wofür sind die denn?«, frage ich.
»Die hier?« Sie schüttelt ihre Pillendose. »Das sind meine Vitamine.«
Ich warte auf eine weitere Erklärung.
»Das sind meine Glückspillen. Meine Antidepressiva.«
»Oh.«
»Ohne die bin ich nicht ich selbst.«
In all der Zeit bin ich nie auf die Idee gekommen, dass sie klinisch depressiv sein könnte. Mein Vater und ich haben uns gegenseitig und allen, die nach ihr gefragt haben, immer gesagt, sie trauere noch immer, sie habe eine schwere Zeit oder sie fühle sich heute nicht gut, aber wir haben nie das Wort »depressiv« verwendet. Ich habe gedacht, ihr mangelndes Engagement für das, was von ihrer Familie noch übrig war, für mich, sei ihre freie Entscheidung gewesen. Zum ersten Mal denke ich über die Möglichkeit einer ganz anderen Erklärung nach.
»Wann hast du denn angefangen, die zu nehmen?«
»Vor ungefähr drei Jahren.«
»Warum bist du denn nicht schon früher zu einem Arzt gegangen?«, frage ich in der Annahme, dass sie sie schon längst gebraucht hätte.
»Dein Dad und ich haben nie darüber nachgedacht. In unserer Generation ging man nicht wegen Gefühlen zum Arzt. Man ging zum Arzt, wenn man sich etwas gebrochen hatte, operiert werden musste oder ein Baby bekam. Wir glaubten nicht an Depressionen. Wir dachten beide, ich bräuchte nur etwas Zeit, um zu trauern, und dann würde ich wieder ein Lächeln aufsetzen und weiterleben können.«
»Aber so war es nicht.«
»Nein, so war es nicht.«
Bei den wenigen gemeinsamen Erlebnissen mit meiner Mutter haben unsere Gespräche immer nur an der Oberfläche gekratzt und nie zu irgendetwas geführt. Es ist eine solche Lappalie, zu hören, wie meine Mutter zugibt, was nie bestritten wurde, dass sie nicht glücklich war und nie wirklich weitergelebt hat. Aber ihr freimütiges Eingeständnis ermutigt mich doch, das Gespräch fortzusetzen, in diese großen und undurchsichtigen Gewässer einzutauchen. Ich atme einmal tief ein, weil ich keine Ahnung habe, wie weit unten der Grund sein könnte oder worauf ich auf dem Weg dorthin stoßen könnte.
»Hast du denn einen Unterschied bemerkt, als du angefangen hast, die Pillen zu nehmen?«
»Oh ja, sofort. Na ja, nach einem Monat oder so. Es war, als hätte ich in einer dunklen, verschmutzten Wolke gelebt, die nun endlich aufstieg und davonschwebte. Ich wollte wieder etwas unternehmen. Ich fing wieder an zu gärtnern. Und zu lesen. Ich bin einem Buchclub beigetreten und den Red-Hat-Damen, und ich habe angefangen, jeden Morgen einen Spaziergang am Strand zu machen. Ich wollte jeden Morgen aufwachen und etwas unternehmen.«
Vor drei Jahren. Charlie war damals vier und Lucy zwei. Bob träumte noch begeistert von seinem Startup-Unternehmen, und ich arbeitete noch bei Berkley – schrieb Berichte, flog nach China, sicherte den Erfolg und Fortbestand eines Millionen-Dollar-Unternehmens. Und meine Mutter gärtnerte wieder. Ich kann mich an ihren Gemüsegarten erinnern. Und sie las und sammelte Gegenstände am Strand. Aber sie versuchte nicht, wieder Kontakt zu ihrer einzigen Tochter aufzunehmen.
»Bevor ich anfing, die Medikamente zu nehmen, wollte ich morgens nicht aufwachen. Ich war wie gelähmt von quälenden Fragen. Was, wenn ich auf Nate im Pool besser aufgepasst hätte? Dann wäre er jetzt immer noch hier. Ich war seine Mutter, und ich habe ihn nicht beschützt. Was, wenn dir etwas zugestoßen wäre? Ich hatte es nicht verdient, deine Mutter zu sein. Ich hatte es nicht verdient zu leben. Fast dreißig Jahre lang habe ich Gott
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