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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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eine Hälfte ihrer grünen Nadeln. Und obwohl sich das Naturschutzgebiet in beide Richtungen weiter erstreckt, als das Auge blicken kann, erstreckt sich auf meinem Gemälde der Wald nur auf der rechten Seite. Die linke Seite jedes sanft geschwungenen Hügels ist nur flach, und die linke Seite des Schuppens löst sich irgendwie im Nichts auf. Den Wetterhahn habe ich ganz zu malen vergessen. Er steht auf der linken Hälfte des Schuppendachs.
    Ich seufze und schnappe mir einen triefend nassen Pinsel aus meinem Gurkenglas.
    »Na ja, das wird auch eine gute Übung für mich sein.« Ich frage mich, wo ich damit anfangen soll, die Lücken auszufüllen.
    »Nein, nicht doch. Du solltest es so lassen. Es ist gut so, wie es ist.«
    »Wirklich?«
    »Es ist interessant anzusehen, irgendwie bewegend oder geheimnisvoll, aber nicht auf eine unheimliche Weise geheimnisvoll. Es ist gut. Du solltest es so lassen, wie es ist.«
    Ich richte den Blick wieder auf mein Gemälde und versuche es mit den Augen meiner Mutter zu sehen. Ich versuche es, aber anstatt nur die rechte Seite von allem zu sehen, sehe ich jetzt alles, was fehlt. Alles, was nicht stimmt.
    Auslassungen. Fehler. Neglect. Gehirnschaden.
    »Willst du später den Kindern noch ein bisschen zusehen, bevor ihr Unterricht zu Ende ist, und dann in der Hütte zu Mittag essen?«, fragt meine Mutter.
    »Gern.«
    Ich starre noch immer auf mein Gemälde – auf die Pinselstriche, die Schattierungen, die Komposition – und versuche zu sehen, was meine Mutter sieht.
    Versuche zu sehen, was gut ist.

SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
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    Ich sitze in einer Nische in der Hütte der Talstation des Mount Cortland, die rechte Schulter an das Fenster gepresst, das auf die Südseite des Berges hinausgeht. Meine Mutter sitzt mir gegenüber und strickt an einem unpraktischen, aber entzückenden elfenbeinfarbenen Wollpullover für Linus, der in seinem Buggy schläft. Ich wundere mich, dass er bei dem ganzen Lärm und Trubel hier drinnen schlafen kann. Es ist fast Mittag, und der Raum füllt sich allmählich mit lauten, hungrigen Skifahrern, die alle in ihren schweren Stiefeln über den Hartholzboden poltern. In der Hütte gibt es keine Teppiche, Vorhänge oder Dekorstoffe irgendwelcher Art, nichts, was die Geräusche dämpfen würde, sodass jeder Stiefelschritt und jede Stimme durch den ganzen Raum hallt und ein unmusikalisches Echo erzeugt, von dem ich irgendwann Kopfschmerzen bekommen werde.
    Gestern im Supermarkt hat meine Mutter an der Kasse ein Arbeitsheft mit Wortsuchrätseln entdeckt, und weil sie sich erinnert hat, dass Heidi mir in Baldwin immer Wortsuchaufgaben gestellt hat, hat sie es gekauft. Sie freut sich über jede Gelegenheit, meine Therapeutin zu sein. Im Moment habe ich eines der Rätsel in Arbeit und bereits elf der zwanzig Wörter gefunden. Ich nehme an, die restlichen neun sind irgendwo auf der linken Seite versteckt, aber ich habe keine Lust, sie alle aufzuspüren. Ich beschließe, stattdessen aus dem Fenster zu sehen und mit offenen Augen zu träumen.
    Es ist ein heller und sonniger Tag geworden, noch heller durch die Spiegelung der Sonne auf so viel Weiß, und meine blinzelnden Augen benötigen eine Minute, um sich daran zu gewöhnen. Ich halte nach den Kindern Ausschau, die bei ihrem Unterricht auf der Rabbit Lane drüben am Magic-Carpet-Lift sind, und entdecke Charlie in der Mitte des Hügels auf seinem Snowboard. Er fällt alle paar Sekunden nach hinten auf seinen Po oder nach vorn auf die Knie, aber in den wenigen Sekunden dazwischen, in denen er tatsächlich auf den Beinen steht, scheint er sich richtig gut zu bewegen, und es sieht aus, als würde es Spaß machen. Ein Glück, dass er junge Knochen hat und nur etwa einen Meter zwanzig groß ist – nicht allzu hoch über dem Boden, auf den er immer wieder knallt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wund, erschöpft und von blauen Flecken übersät ich wäre, wenn ich so oft hinfallen würde. Ich denke über die letzten Monate nach. Na ja, vielleicht kann ich es mir doch vorstellen.
    Dann entdecke ich Lucy, die am oberen Ende des Lifts wartet, vermutlich auf eine Anweisung. Im Gegensatz zu ihrem unerschrockenen Bruder würde sie ohne ausdrückliche Erlaubnis nicht einen Ski allein bewegen. Sie verharrt noch immer reglos, und Charlie habe ich aus den Augen verloren, daher schweift meine Aufmerksamkeit jetzt nach rechts ab – wie sie es meistens tut –, zum unteren Ende des Fox Run und des Wild Goose Chase, meiner

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