Mehr als nur ein halbes Leben
mich, wie lange wir wohl in ein und demselben Zimmer werden sitzen können, ohne über all die Dinge zu reden, über die wir nie reden. Sie reicht mir meine schwarzen Merrell-Slipper – meine einzigen flachen Schuhe mit Gummisohlen und ohne Schnürsenkel oder Schnallen –, und mithilfe des Spiegels und der Weihnachtssocke drücke ich je einen Schuh auf jeden Fuß, ohne jede Hilfe von ihr. Na bitte. Untere Hälfte geschafft. Rentiersocken, Schuhe und meine hautenge Jeans, Reißverschluss und Knopf offen.
Aber so geschickt ich auch darin bin, meine untere Hälfte anzuziehen (für eine Vorschülerin), so scheitere ich doch völlig bei der oberen Hälfte. Ich kann mir nicht vorstellen – es sei denn, ich genese vollständig –, wie ich es je wieder schaffen sollte, ohne fremde Hilfe in meinen BH zu kommen, wie ich es früher getan habe, jeden Tag, seit ich dreizehn bin. Den linken Arm durch den linken Träger, die linke Brust in das linke Körbchen. Ganz zu schweigen von dem Verschluss auf dem Rücken. Mein armes verletztes Gehirn verbiegt sich völlig – wie eine Art Verrenkungskünstler im Zirkus –, wenn es sich auch nur vorzustellen versucht, wie diese Prozedur vonstattengehen soll. Jeden Schritt des Anziehens soll ich zumindest allein versuchen, aber bis ich zu dem BH komme, habe ich jede Lust verloren. Meine Mutter erledigt es einfach für mich, und wir sagen den Therapeuten nichts davon.
Sie hält einen meiner weißen Victoria’s-Secret-Push-up-BHs hoch. Ich schließe die Augen und verdränge das demütigende Bild, wie meine Mutter unsanft an meinen Brüsten herumfummelt. Aber selbst mit geschlossenen Augen kann ich ihre kalten Finger auf meiner nackten Haut spüren, und während mir unwillkürlich durch den Kopf geht, was sie tut, schlendert die Demütigung einfach herein, macht es sich bequem und legt die Füße hoch. Wie sie es jetzt jeden Tag tut.
Nachdem das erledigt ist, ist als Nächstes mein Hemd an der Reihe. Heute ist es mein weißes, übergroßes Button-down-Boyfriend-Hemd. Ich komme relativ leicht mit dem rechten Arm durch den rechten Ärmel, aber dann überlasse ich mich meiner Mutter für den linken Ärmel. Ich finde keine treffenden Worte für die Unmöglichkeit, mit der linken Hand in den linken Ärmel zu kommen. Zu guter Letzt reiße ich dabei immer die linke Hand hoch in die Luft, als würde ich in einem Klassenzimmer sitzen und eine Frage stellen wollen, wobei ich das Ärmelloch weit verfehle. Oder ich finde es und schnappe mir den linken Ärmel mit der rechten Hand, ziehe mir dann aber, wenn ich versuche, den Ärmel irgendwie über meinen linken Arm zu bekommen, das ganze T-Shirt hoch und über den Kopf. Allein schon der Hinweis »linke Hand in linken Ärmel« sorgt dafür, dass sich mein Gehirn im Kreis dreht, sodass mir ein bisschen schwindelig wird. Es ist der reinste Wahnsinn.
Und so sitze ich jetzt im Rollstuhl, von der Hüfte abwärts bekleidet, das Hemd weit offen, mein BH und der Pizzateigbauch gut sichtbar, während mir vor dem graut, was als Nächstes kommt. Zuknöpfen.
Mein ganzes Hemd mit einem linksseitigen Neglect und nur der rechten Hand zuzuknöpfen erfordert ungefähr dieselbe einzigartige, komplexe und geballte Konzentration, die – so stelle ich mir vor – jemand bräuchte, der eine Bombe entschärfen will. Ich habe drei der fünf Knöpfe geschafft, die ich mir zuzuknöpfen vorgenommen habe, und ich bin völlig erschöpft. Bevor ich den vierten in Angriff nehme, entdecke ich Heidi im Spiegel, und ich atme die angehaltene Luft und Anspannung der drei Knöpfe aus. Drei sind genug.
»Gut gemacht.« Heidi klingt beeindruckt.
»Danke«, sage ich, aufrichtig stolz auf mich.
»Aber warum in aller Welt willst du das tragen?«, fragt sie.
»Was meinst du?«
»Warum willst du ein Hemd mit Knöpfen tragen?«
»Weil ich jede Gelegenheit wahrnehmen sollte, um mit der linken Seite zu interagieren?«, zitiere ich Martha in der Annahme, dass die Frage ein Test ist.
»Aber in angemessenem Rahmen. Wir sollten auch praktisch denken.«
»Das heißt, ich sollte das hier nicht tragen?«, frage ich.
»Ich würde es nicht tun. Ich würde meine Button-down-Hemden wegpacken und nur noch Pullover tragen.«
Ich denke an meinen Kleiderschrank voller Button-down-Hemden, den Hemden, die ich zur Arbeit trage.
»Für wie lange?«
»Fürs Erste.«
Ich erstelle in Gedanken eine Inventarliste der Hemden, die in meinem Wandschrank hängen – Armani, Donna Karan, Grettacole,
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