Mehr als nur ein Zeuge
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Das Rennen
Heute findet die Leichtathletikmeisterschaft der Schulen statt, aber ich habe nicht die Absicht, Mum davon zu erzählen. Sie hat schon gestern genug von meiner Zeit und meiner Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Aber als ich zum Frühstück runtergehe, sitzt sie bereits fertig angezogen am Küchentisch. Sie trägt die neue Jeans und das rote Oberteil. Als sie mich fragt, wo ich hinwill, kommt es mir schäbig vor, sie anzuschwindeln.
»Darf ich mit?«, fragt sie. »Ich würde dich gern mal laufen sehen. Eigentlich ist es ja nicht verkehrt, dass du ein bisschen Sport treibst. Jedenfalls bist du dann von der Straße weg.«
Wir wissen beide, was sie mit ›Straße‹ meint. Messer, Überfälle im Park und so weiter. Ich sage sofort Ja, damit sie Ruhe gibt.
Aber ich überrede sie, etwas nicht ganz so Auffälliges anzuziehen.
Jetzt sind wir also hier, auf dem Sportplatz, stehen vor dem Tisch, wo man sich anmeldet. Ich hoffe, dass ich |132| Mum irgendwo parken kann, denn ich habe schon gesehen, dass etliche meiner neuen Freunde hier sind – Max und Jamie ganz bestimmt … und nicht allzu viele Eltern.
Ellie und Mr Henderson sitzen an der Anmeldung, und Ellies Gesicht hellt sich auf, als sie meine Mum sieht. »Ach, das freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs Andrews. Ich bin Ellie, Joe hat Ihnen bestimmt schon von mir erzählt. Ich trainiere ihn.«
Meine Mum hat eben den Rollstuhl erspäht und ihr Ich-bin-Rechtsanwaltsgehilfin-mich-bringt-nichts-aus-der-Ruhe-Gesicht aufgesetzt. Sie schüttelt Ellie die Hand und sagt: »Ich bin Michelle. Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für Joe nehmen.«
Mr Henderson reicht mir ein Formular zum Ausfüllen. Es ist eigentlich nicht schwierig, aber ich komme mir ein bisschen mies vor, weil ich mein falsches Geburtsdatum einsetzen muss. Damit mache ich mich zehn Monate jünger, als ich eigentlich bin. Eigentlich ist das Betrug, oder? Ich verschaffe mir damit einen unfairen Vorteil. Ist das nicht genauso schlimm wie Doping?
Mr Henderson merkt, dass ich zögere, und fragt: »Stimmt was nicht, Joe? Es ist doch alles ganz einfach zu verstehen, oder?«
»Nein … doch … ich wusste nur nicht genau … für welchen Lauf ich mich eintragen soll …«
»Das ist doch nicht schwer, Joe. Du bist in der Achten und du bist ein Junge. Also nimmst du am Lauf für die Jungs aus der Achten teil.«
|133| »Ach so. Klar. Äh … Mr Henderson?«
»Ja?«
»Kann ich nicht lieber bei den Jungs aus der Neunten mitlaufen? Das wäre eher eine Herausforderung für mich.«
Kaum habe ich es ausgesprochen, wird mir klar, dass ich mich anhöre wie ein überhebliches Arschloch. Mr Henderson muss lachen, Ellie grinst und Mum verdreht die Augen.
»Bleib du mal in deiner eigenen Altersgruppe«, antwortet Mr Henderson. »Aber wenn du eine echte Herausforderung suchst: Es gibt später noch einen 150 0-Meter -Lauf, an dem alle unter sechzehn teilnehmen können. Normalerweise würde ich dort keinen Dreizehnjährigen mit reinnehmen, aber wenn du es wirklich versuchen willst …«
Natürlich muss ich jetzt begeistert und ehrgeizig aussehen und »Au ja, supergern!« sagen. Falls ich Letzter werde, kann ich mich erschießen lassen.
Ellie klärt mit Mr Henderson, dass er auch ohne sie zurechtkommt, und fragt meine Mum, ob sie uns ihrer Familie vorstellen darf. »Die sind alle hier«, sagt Ellie. »Es gibt auch noch ein Rollirennen … Und mein kleiner Bruder läuft die 200 Meter bei den Unter-Elfjährigen.«
Ihre Eltern stehen drüben vor einer Reihe mit Zuschauerbänken. Zwei kleinere Jungs jagen sich johlend im Kreis. Claire aus meiner Klasse – die schüchterne kleine Claire – hat, wie mir auffällt, das gleiche Verhältnis zu ihren Freizeitklamotten wie zu ihrer Schuluniform. |134| Sie trägt eine zu große dunkelblaue Bluse und weite Jeans und sitzt in ein Buch vertieft auf einer Bank. Ich stehe neben ihr, darum sage ich Hallo, und sie schaut flüchtig auf. Sie grüßt nicht mal. Ich ärgere mich ein bisschen.
Ellies Mum heißt Janet und sieht ihrer Tochter ähnlich: das gleiche freundliche Lächeln, die gleichen strahlenden Augen. Gareth, ihr Vater, ist ein großer, stämmiger Rothaariger. Voller Stolz erzählt er Mum von Ellie: »Es ist wirklich unglaublich, was sie im Rollstuhl leistet. Sie werden Ihren Augen nicht trauen, wenn Sie nachher das Rennen verfolgen … diese Geschicklichkeit … und gleichzeitig ein solches Tempo! Ich sage
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