Mehr als nur ein Zeuge
wie toll ich bin. Ellie kommt zu mir rübergerollt – alle weichen einen Schritt zurück –, nimmt meine Hände und jubelt: »Bravo! Das war super!« Ich entdecke Mum am Rand der Menge. Sie lächelt. Sie sieht ziemlich geschockt aus.
Ein Reporter von der Lokalzeitung kommt an und will mich interviewen, aber ich winke ab. »Tut mir leid, ich muss los.« Es gelingt mir, ihn im Gewühl abzuschütteln.
An den restlichen Nachmittag kann ich mich nicht mehr richtig erinnern. Ellies Rollstuhlrennen ist klasse, wie dieses Wagenrennen in dem Film, der Gran so gut |141| gefällt …
Ben Hur,
so heißt er … mit sausenden Rädern und Ellies muskulösen Armen, die sich wie wild bewegen, und es ist ein bisschen wie beim Formel- 1-Grand -Prix, bloß ohne den ohrenbetäubenden Lärm. Sie gewinnt. Haushoch.
Ich stehe bei ihrer Familie und wir schreien alle und jubeln, nur Claire nicht, die liest einfach weiter. Vielleicht ist sie neidisch auf Ellie, weil sie so ein Star ist. Aber wie kann sie auf jemanden neidisch sein, der an einen Rollstuhl gefesselt ist?
Dann kommt die Siegerehrung. Man überreicht mir einen Pokal und eine Medaille, und Mr Henderson nimmt mir beides wieder weg und sagt, dass mein Name noch eingraviert wird, und ich muss schlucken, weil es mir lieber wäre, mein richtiger Name würde draufstehen. Einfach so, wegen Dad. Jede Wette, wenn er hier wäre, würde er ganz schön staunen.
Dann ziehe ich mich um, und wir gehen zu Fuß zu Ellie nach Hause, weil uns ihre Mum zum Abendessen eingeladen hat.
Ich hätte gedacht, Ellie wohnt in einem dieser Häuser, die man immer in der Glotze sieht, wenn sie einem erzählen, dass man sein Haus in London verscheuern und dafür eine Riesenhütte auf dem Land kaufen soll, mit Riesengarten und Zufahrt und so. Wahrscheinlich habe ich einfach angenommen, dass alles in ihrem Leben perfekt gewesen ist, bis es in einem schrecklichen, unglücklichen Augenblick zerstört wurde.
Dabei wohnt sie in einer ganz gewöhnlichen kleinen |142| grauen Doppelhaushälfte, ziemlich gammelig, mit einer blauen Tür und einem Komposthaufen in dem winzigen Vorgarten. Janet führt uns nach hinten durch in die große Küche und erklärt dabei, dass sie das Haus umbauen mussten, als Ellie den Unfall hatte, damit sie im Erdgeschoss schlafen kann.
»Damals war es das reinste Chaos und heute ist es das reinste Irrenhaus«, sagt sie fröhlich, »aber wir wurschteln uns so durch.«
»Sie haben bestimmt alle Hände voll zu tun«, sagt Mum. »Vier Kinder machen doch eine Menge Arbeit«, und Janet entgegnet, ja, manchmal weiß sie auch nicht, wie sie das alles schafft, und dass sie froh ist, dass sie einen Job hat, der dafür sorgt, dass sie nicht durchdreht. Und Mum meint: »Das kann ich nur zu gut nachvollziehen«, was einigermaßen unverschämt ist, wenn man bedenkt, dass sie bloß mich hat.
Ellies Brüder fragen, ob wir was auf der Wii spielen wollen. Klar will ich, denn Mum hat mir nie eine Wii oder einen Nintendo oder eine Playstation erlaubt, weil wir uns so was angeblich nicht leisten können und weil es mich von der Schule ablenkt, und darum habe ich mir mein Leben lang verzweifelt Sachen gewünscht, die alle anderen ganz selbstverständlich hatten.
Es macht einen Mordsspaß. Wir spielen Tennis gegeneinander, und als ich und Ellies Bruder Sam gerade das Finale austragen – ich bin Nadal, meine Rückhand ist gigantisch, und er ist Murray und hat so was von Kampfgeist –, kommt Claire rein und verkündet: »Abendessen.« |143| Sie wirkt richtig sauer, als sie mich sieht. Inzwischen geht sie mir ganz schön auf den Sender. Warum muss sie so unfreundlich sein?
Ich passe auf, dass ich nicht neben ihr sitze, als wir in der großen Küche am Tisch Platz nehmen und kaltes Huhn, Salat und Pellkartoffeln essen – das beste Essen, das mir jemand seit Ewigkeiten vorgesetzt hat. Ich nehme mir schon das dritte Mal nach, ehe alle anderen auch nur den ersten Teller leer haben.
Ellie schwärmt immer noch von mir. »Sie haben heute ja gesehen, was in ihm steckt«, sagt sie zu Mum. »Wenn er sich richtig reinkniet, kann er es weit bringen.«
Nur zu. Sie redet mit einer Frau, die mich einmal mit dem Bus ins Bankenviertel von London mitgenommen hat. Sie hat mir lauter Hochhäuser gezeigt und Männer in Anzügen, die hektisch rumgerannt sind, und sie hat gesagt: »Hier arbeiten die Reichen. Wenn du dich beim Rechnen und Schreiben richtig anstrengst, kannst du eines Tages auch hier arbeiten
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