Mehr als nur ein Zeuge
Fragen sind.
»Wir müssen erst mal abwarten, wie alles läuft. Wie schnell sich deine Gran wieder erholt. Nächste Woche hast du Ferien, dann ist es einfacher, dich hin- und herzufahren, aber deine Sicherheit hat weiterhin Vorrang.«
|161| Sie warten bis Mitternacht, dann fahren sie los. Mum drückt mich und sagt: »Pass auf dich auf, mein Schatz.« Ich sehe ihnen nach. Es kommt mir vor, als würde sie ein für alle Mal in der schwarzen Nacht verschwinden. Ob ich sie je wiedersehe?
Maureen schläft in Mums Zimmer, ich liege in meinem wach. Schließlich gebe ich es auf, einschlafen zu wollen, und mache meinen iPod an. Ich denke an meinen elften Geburtstag, als ich mit Arron ins Schwimmbad gegangen bin, wir haben Kuchen und Eis gegessen und zu Hause
Star Wars
auf DVD angeschaut. Wie konnte es mit uns beiden nur so weit kommen? Was ist bloß schiefgelaufen?
Als ich am nächsten Morgen das Haus zum Training verlasse, schläft Maureen noch. Ich lege ihr einen Zettel hin und trabe im Dauerlauf bergab. Die leeren Straßen ängstigen mich ein bisschen, ich drehe mich dauernd um. Bis zur Schule brauche ich zwanzig Minuten, und bis dahin jagt mir sogar eine Katze, die quer über die Straße saust, einen Mordsschrecken ein. Als ich durchs Schultor laufe, zittere ich, als hätte ich zehn Liter Cola auf einmal getrunken.
Die Fitness-Suite ist meine Zuflucht. Ich trainiere noch intensiver, als Ellie es mir aufgetragen hat, als könnte ich Gran damit helfen, dass ich bis an meine Grenzen gehe. Hinterher triefe ich vor Schweiß, und vor lauter Anstrengung ist mir ganz schwindlig. »Locker dich erst mal in Ruhe aus«, würde Ellie sagen, aber ich muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät. Ich trabe in die Umkleide, |162| reiße mir schon unterwegs das Hemd runter, stoße die Tür auf und … was zum … ich segle durch die Luft und lande vor Carls Füßen auf dem Boden.
»Hoppla!«, höhnt er, holt mit dem Fuß aus und tritt mir voll in die Rippen. Ich krümme mich fluchend, er kräht vor Lachen und tritt noch mal zu. Weiß Gott, was noch alles passiert wäre – aber da geht die Tür auf und Mr Henderson steht im Raum.
»Welcher Blödmann hat seine Sporttasche hier hingestellt, sodass jeder drüber stolpert?«, will er wissen. Dann erblickt er mich. »Was machst du da auf dem Boden, Joe? Zieh dich sofort um.« Ich flüchte in die Dusche und Carls Bande zieht ab.
Ich komme schon wieder zu spät, was wieder Nachsitzen bedeutet. Als ich kurz danach zur Morgenversammlung erscheine, schaut sich Ashley schon nach mir um, sie hat mir einen Platz frei gehalten. Beim Hinsetzen spüre ich einen stechenden Schmerz in den Rippen, wo mich Carl getreten hat. Hat er die Sporttasche absichtlich dort hingestellt?
Ist auch egal. Das spielt alles keine Rolle, weil ich sowieso die ganze Zeit nur an Gran denke. Ich passe in Englisch und Erdkunde nicht auf und kriege zwei Minuspunkte verpasst. Ich habe meine Mathehausaufgaben vergessen, womit sich das Nachsitzen verdoppelt. Ashley will, dass ich mit ihr und ihren Freundinnen die Pause verbringe, aber ich habe die Schnauze voll. »Nein, keine Lust.«
Ashley ist enttäuscht. Sie will mich auf dem Schulhof |163| vorführen wie einen Zuchtpudel bei der Hundeschau. Dann sagt sie: »Wollen wir irgendwohin gehen, nur wir beide?«
»Wohin denn?«
»Ich wüsste da …«
Dieses Mädchen weiß alles. Sie schleppt mich in eine dunkle, staubige Requisitenkammer neben dem Theatersaal. Wir quetschen uns rein, der Platz reicht gerade für zwei. Meine Rippen tun jetzt noch mehr weh, aber es ist verblüffend, wie schnell es mir besser geht, als ich die Arme um Ashley lege. Ihr scheint dieser Türkenquatsch zu gefallen, deshalb flüstere ich ihr noch ein paar Worte ins Ohr, wobei ich bekannte Wörter wie Schaschlik und Kebab möglichst vermeide. Ich kann Ashley nicht mal sehen, aber ich kann sie spüren … und schmecken … und anfassen … und …
Es klingelt. Die Pause ist um. Will Ashley etwa schwänzen und die ganze nächste Schulstunde hier drin verbringen, oder gleich den Rest des Tages? In der Abstellkammer fühle ich mich nicht nur sicher, mir gehen auch keine schrecklichen Gedanken durch den Kopf. Aber Ashley stopft sich die Bluse wieder in den Rock, macht den obersten Knopf zu und sagt: »Los, Joe, sonst kommen wir zu spät zu Sport.«
Ach ja, wir haben heute Sport. Toll. Da sehe ich meinen alten Freund Carl wieder. Und mein Sportzeug ist auch noch ganz verschwitzt. Erst
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