Mehr als nur ein Zeuge
als ich zum Sporttrakt rübergehe und sehe, wie sich die Jungs an der Tür aufstellen, fällt mir wieder ein, dass wir heute das erste Mal |164| im Schwimmbad sind. Natürlich habe ich nicht nur mein Schwimmzeug vergessen, ich trage auch noch Kontaktlinsen, die garantiert rausfallen, wenn ich mit dem Kopf unter Wasser bin.
Mr Henderson ruft uns nacheinander auf und ich hebe die Hand. »Ich hab meine Sachen vergessen.«
»Macht nichts«, antwortet er, »ich hab immer eine Ersatzbadehose und ein Handtuch in meinem Büro. Hol’s dir mal gleich. Im Schrank, drittes Fach von oben.«
Verdammt. Dann muss ich eben die Augen zumachen oder nicht untertauchen oder so was. Vielleicht kann ich mir eine Schwimmbrille leihen? Das ist echt blöd, weil ich eigentlich total gern schwimme. Wir ziehen uns um, und ich höre Carl und seine Kumpels kichern, als sie meine blauen Flecken sehen. Sollen sie doch, die Schwachköpfe.
Wir kraulen ein paar Bahnen, um uns aufzuwärmen, dann stehen wir im brusttiefen Wasser und Mr Henderson erklärt, was wir als Nächstes machen sollen. Das mit dem Kopf über Wasser bleiben kann ich vergessen. Wir sollen mit Kopfsprung vom Startblock rein, dann unter Wasser weiterschwimmen und zum Schluss durch eine Styroporwand mit einem Loch drin tauchen. Unmöglich. Da springe ich mit braunen Augen rein und komme mit grünen wieder raus.
Ich hebe die Hand: »Mr Henderson, kann ich mir eine Brille ausleihen?«
»Nein, Joe. Wenn du zugehört hättest, wüsstest du, dass es hier um ein Überlebenstraining geht, das ohne |165| Brille und ohne Flossen durchgeführt werden muss. Unsere Regierung hat in ihrer unendlichen Weisheit festgestellt, dass jährlich viel zu viele Kinder ertrinken, und möchte jetzt, dass ihr euch zu helfen wisst, falls ihr mal aus einem Boot oder in einen Fluss fallt. Es handelt sich um eine ganz neue Kampagne, die unsere Sportschwerpunktschule als Pilotprojekt durchführen soll – streng nach Vorschrift.«
»Ohne Brille kann ich leider nicht mitmachen.«
Ein paar Jungs lachen höhnisch. Carl ruft: »Du machst dir wohl nicht gern die Haare nass, was? Das versaut dir die schöne Frisur. Oder hast du Angst, dass dir die Wimperntusche verläuft? Da können wir dir behilflich sein!« Schon packen mich zwei seiner Gorillas an den Armen und Carl drückt meinen Kopf unter Wasser.
Ich wehre mich, zappele und trete um mich, atme Wasser durch Nase und Mund ein … Blasen blubbern raus, meine Lunge droht zu platzen … ich sehe nur noch kleine Funken und Punkte und … ich sterbe … dann lassen sie mich los und ich schieße in die Höhe und schnappe nach Luft.
Ich huste und japse und höre Mr Henderson brüllen: »Was fällt euch ein, verdammt noch mal …«, aber da stürze ich mich schon auf Carl, hole aus und – zack! – kracht meine Faust mitten in seine Schweinsvisage. Er schreit auf, greift sich an die Nase und kippt nach hinten, wobei ihm eine Blutfontäne aus der Nase schießt, meine Hand bekleckert und das Wasser trübt.
»Zieht ihn aus dem Wasser!«, ruft Mr Henderson, und |166| Brian und Jamie fischen Carl raus. Sie hieven ihn auf den Rand, wo er zitternd und schniefend sitzen bleibt und ihm das Blut übers ganze Gesicht läuft, dann kotzt er sein Frühstück auf den Beckenrand.
»Um Himmels willen«, sagt Mr Henderson. »Hol sofort ein Handtuch!«, raunzt er Brian an. Brian rennt los und kommt mit Carls Handtuch zurück, dann muss er sich anziehen und die Schulschwester holen. »Sag ihr, dass sie wahrscheinlich den Krankenwagen rufen muss. Und Terry, der Hausmeister, soll auch herkommen und sauber machen.«
Ich starre immer noch auf das Blut auf meiner Hand und das Blut im Wasser. Wieder fange ich krampfhaft zu zittern an wie damals in der Turnhalle. Das Blut tropft ins Wasser, es klebt an meinen Händen, gleich muss ich in Blut ertrinken … Erst Mr Hendersons scharfer Ton bringt mich wieder zu mir.
»Alle raus aus dem Wasser und anziehen! Ihr könnt anschließend gleich zum Mittagessen gehen. Joe – du kommst unverzüglich in mein Büro, sobald du umgezogen bist.«
In der Umkleide klopfen mir Jamie und Max anerkennend auf die Schulter. »Du warst total im Recht«, sagt Max. »Er wollte dich ersäufen.«
»Wo hast du gelernt, so zuzuschlagen?«, will Jamie wissen. »Kannst du mir das beibringen?« Carls Bande geht mir auffällig aus dem Weg.
Ich dusche, wobei ich sorgfältig darauf achte, dass ich alles Blut abwasche, und trödle beim
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