Mehr als nur ein Zeuge
wie vorhin.«
»Sie hat unter großer Anspannung gestanden«, meint Doug. »Sie braucht einfach ein bisschen Zeit, um sich zu erholen.«
Warum kann sie nicht einfach Ruhe bewahren und weitermachen, so wie ich? Auf
sie
hat schließlich niemand geschossen,
sie
muss nicht vor Gericht erscheinen und ihre Geschichte erzählen,
sie
ist nicht diejenige, um die es hier geht. Anspannung … das ist doch nur eine Ausrede. Eine Ausrede dafür, zu nichts zu gebrauchen zu sein.
Ich stehe auf und trage die gebügelte Wäsche nach oben. »Ich geh ins Bett.«
Maureen folgt mir die Treppe hinauf. »Ich stell dir ein Glas Wasser und eine halbe Schlaftablette ans Bett, falls du wieder Albträume hast.«
»Danke, Maureen. Vielen Dank, dass Sie noch bleiben.«
Sie sieht mich an und sagt: »Es wird bestimmt besser, Ty, das geht alles vorbei, keine Bange.«
Maureen ist prima, aber sie ist bei der Polizei. Und die |268| Polizei hat behauptet, Gran kann in ihrer Wohnung nichts passieren, und dass ich unbesorgt mit Dave ins Krankenhaus gehen kann. Deswegen glaube ich Maureen auch nicht alles.
Als ich aufstehe, schläft Mum noch. Maureen macht mir Toast und wünscht mir viel Glück, und ich marschiere den Hügel runter. Das letzte Mal, als ich ganz normal in der Schule war – den Termin beim Schulleiter rechne ich mal nicht mit –, habe ich in Mr Hendersons muffigem Büro wie ein Mädchen Rotz und Wasser geheult. Was mache ich, wenn sich das inzwischen irgendwie rumgesprochen hat? Wenn es irgendeine Überwachungskamera aufgenommen hat und jetzt hat es jeder auf seinem Handy? Beinahe drehe ich kurz vor der Schule wieder um.
Kaum bin ich durch das Schultor, stürzen sich Brian, Jamie und Max auf mich. »He, Joe, super, dass du wieder da bist!« Wir klatschen uns ringsum ab und Brian fragt: »Na, was gibt’s Neues? Wollten sie dich fertigmachen?«
»Ach Quatsch. Carl und ich sollen an einem gemeinsamen Projekt arbeiten.«
Jeder hat eine andere Idee. Jamie meint, wir sollen den Kricket-Club für die Siebtklässler leiten. Brian ist der Ansicht, dass wir womöglich in eine Art Erziehungslager für kriminelle Jugendliche geschickt werden.
»Vielleicht müsst ihr ja das Schwimmbecken schrubben«, schlägt Max vor.
|269| »Mit unseren Zahnbürsten, was?«, setze ich noch eins drauf.
Die Jungs verstummen, stoßen einander in die Rippen und schauen mich an. Ashley steht, umringt von ihren Freundinnen, mitten auf dem Schulhof. Sie schauen alle zu uns rüber, ein paar haben tröstend den Arm um Ashley gelegt, die sich eine Träne aus dem Auge wischt.
»Wir haben’s schon gehört, Kumpel«, sagt Brian. »So ein Mist! Aber ihre Eltern sollen echt total streng sein.«
»Die mit den strengsten Eltern sind immer die größten Flittchen«, meint Max.
»Vielleicht könnt ihr beide ja eine heimliche Liebschaft haben?«, schlägt Jamie vor.
Ich schüttele den Kopf. »Ach was, vorbei ist vorbei. Schließlich gibt es in dieser Schule ja noch andere Möglichkeiten.«
»Für dich vielleicht«, seufzt Brian, »für uns ist es die reinste Wüste.«
Als es klingelt, merke ich, dass ich im allgemeinen Mittelpunkt des Interesses stehe. Viele Schüler schauen zu mir rüber, zeigen auf mich, und überall wird getuschelt. Mädchen lächeln, ein paar Siebtklässler fangen an zu johlen und zu klatschen, bis sie von der Aufsicht weggescheucht werden. Ich versuche, den ganzen Aufruhr zu ignorieren, und halte nach Claire Ausschau.
Sie ist nicht schwer zu entdecken, denn es gibt höchstens drei Mädchen, die immer noch ihre Winteruniform anhaben. Die Haare hängen ihr wie immer ins Gesicht und sie sieht genauso verschreckt und einsam aus wie |270| immer. Sie sieht aus, wie ich mich in St. Saviours gefühlt habe; allerdings hoffe ich, dass man es mir nicht ganz so deutlich angesehen hat.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich die Leute jemals dazu bringen soll zu akzeptieren, dass Joe mit diesem Mädchen befreundet ist – schon gar nicht, wenn mir Mädchen wie Lauren, Emily und Zoe aus der Parallelklasse jedes Mal, wenn Ashley mir den Rücken zudreht, Blicke zuwerfen, mich anlächeln und mir zuzwinkern. Ich mache mir echt Sorgen um Joes Ruf. Aber ist Joe cool genug, um Claires Image aufzuwerten?
Ich suche ihren Blick, aber sie reagiert überhaupt nicht. Vielleicht hat sie noch nicht mitgekriegt, dass ich jetzt offiziell Ashleys Ex bin. Bei der Morgenversammlung sitzen wir so nah beieinander, dass ich fast ihre Hand berühren könnte. Ich
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