Mehr als nur Traeume
deshalb verfüge ich über ein bißchen Erfahrung, wie man Kindern das Lesen beibringt. Ich bin sicher, daß Sie es lernen könnten.«
»Könnte ich?« fragte er mit einer hochgezogenen Braue. Er sagte nichts mehr, sondern stand auf, ging zur Ausgabe und stellte der Bibliothekarin ein paar Fragen, die Dougless jedoch nicht hören konnte. Die Bibliothekarin lächelte, nickte, verließ ihren Platz und kam nach einigen Sekunden mit einem Stoß Bücher zurück, die sie Nicholas aushändigte.
Nicholas legte sie auf den Tisch, öffnete den Deckel des obersten Bandes, und sein Gesicht leuchtete vor Freude auf. »Hier, Miss Montgomery, lesen Sie mir das mal vor.«
Auf dem Titelblatt sah sie ein für sie unverständliches Schriftbild mit Wörtern aus seltsam geformten Buchstaben und in einer seltsamen Orthographie. Sie blickte zu ihm hoch.
»Das ist die Schrift, die ich gelernt habe.« Er hob das Buch hoch und blickte auf das Titelblatt. »Es ist ein Stück von einem Mann namens Shakespeare.«
»Sie haben noch nicht von ihm gehört? Ich dachte, einen bekannteren Elizabethaner als ihn gibt es wohl kaum.«
Nicholas, der bereits zu lesen begann, nahm wieder den Platz ihr gegenüber ein. »Nein, ich weiß nichts von diesem Mann.« Rasch wurde er von seiner Lektüre gefangengenommen, während sich Dougless nun in ihre Geschichtsbücher vertiefte.
Sie konnte sehr wenig über die Ereignisse nach Nicholas’ Tod finden. Die Königin hatte von seinen Gütern Besitz ergriffen. Weder Christopher noch Nicholas hatten lebende Nachkommen, und so war der Titel und die Linie der Staffords mit dem Hinscheiden der beiden Brüder erloschen. Und auch in diesen Büchern wurde immer wieder betont, was für ein Verschwender Nicholas gewesen sei und daß er seine ganze Familie verraten habe.
Mittags gingen sie in einen Pub zum Lunch. Nicholas begann sich allmählich an diese frugalen Mahlzeiten zu gewöhnen, brummelte aber unentwegt während des Essens.
»Törichte Kinder«, sagte er, »wenn sie auf ihre Eltern gehört hätten, wären sie am Leben geblieben. Eure Welt züchtet diesen Ungehorsam förmlich heran.«
»Welche Kinder?«
»In dem Stück. Julia und . . .« Er hielt inne und suchte sich zu erinnern.
»Romeo und Julia ? Sie haben Romeo und Julia gelesen?«
»Aye, und so etwas Ungehorsames wie diese beiden habe ich noch nie erlebt. Dieses Stück ist eine Warnung für alle Kinder. Hoffentlich liest es auch die heutige Jugend und lernt daraus.«
Dougless fauchte ihn fast hysterisch an :»Romeo und Julia handelt von der idealen Liebe, und wenn die Eltern nicht so engstirnig und borniert gewesen wären, dann . . .«
»Engstirnig?«
Sie ereiferten und stritten sich nun die ganze Mahlzeit hindurch.
Später, als sie wieder zur Bibliothek zurückgingen, fragte Dougless ihn, wie sein Bruder Christopher ums Leben gekommen war.
Nicholas blieb stehen und sah von ihr fort. »Ich sollte an jenem Tag mit Christopher auf die Jagd gehen, aber ich verletzte mich beim Üben im Schwertkampf am Arm.« Dougless sah, wie er sich den linken Unterarm rieb. »Ich trage noch die Narbe davon am Körper.« Kurz darauf drehte Nicholas sich ihr wieder zu, und es war kein Schmerz mehr auf seinem Gesicht zu erkennen. »Er ist ertrunken. Ich war nicht der einzige Bruder, der Frauen liebte. Kit sah ein hübsches Mädchen im See schwimmen, und er gab seinen Männern den Befehl, ihn mit ihr alleinzulassen. Nach ein paar Stunden kamen die Männer zurück und fanden meinen Bruder tot im See treibend.
»Und niemand sah, wie es passierte?«
»Nay. Vielleicht das Mädchen; aber wir haben es nie gefunden.«
Dougless schwieg eine Weile nachdenklich. »Wie seltsam, daß Ihr Bruder ertrank, ohne daß jemand Zeuge dieses Unglücks wurde, und daß Sie ein paar Jahre später wegen Hochverrats verurteilt wurden. Es scheint fast so, als habe jemand geplant, die Güter der Staffords in seinen Besitz zu bringen.«
Nicholas’ Gesicht veränderte sich plötzlich, nahm jenen Ausdruck an, mit dem Männer eine Frau ansehen, wenn sie etwas sagt, an das sie nicht gedacht hatten - als wäre das Unmögliche geschehen.
»Wer erbte den Besitz? Ihre teure, innig geliebte Lettice?« Dougless preßte die Lippen zusammen und wünschte, sie könnte die Eifersucht aus ihrer Stimme heraushalten.
Nicholas schien das nicht zu bemerken. »Lettice hatte ihr Heiratsgut, aber mit meinem Tod verlor sie jeden Anspruch auf das Stafford-Vermögen. Ich erbte von meinem Bruder Kit; aber ich kann
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