Mehr Bier
schön. Kommen Sie wieder runter. Kessler hat mir nichts gesagt.« Eine Sekunde war Ruhe, dann kam ein tonloses »Bitte?«, und alles ging von vorne los. Schreiende Frauen verursachen Kopfweh - außer, sie schreien auf italienisch -, und ich legte auf.
Ich nahm Papier und Bleistift und machte einen Plan. Eine halbe Stunde später saß ich vor einer Liste mit Namen und noch mehr Fragezeichen. Ich beschloß, mir noch einmal den Nachtwächter vorzunehmen. Er hatte von allen am schlechtesten gelogen.
3
Das kleine Fachwerkhaus war das schäbigste in der Gasse. Der Putz bröckelte ab, das Holz war schon lange nicht mehr gestrichen worden, und leere Blumentöpfe hingen unter den Fenstern. Die Gardinen waren zugezogen. Ich drückte auf die Klingel. Von oben kam leises Husten. Dann ging das Fenster über mir auf.
»Wer ist da?«
Ein Kopf mit kurzem struppigem Blondhaar sah herunter. Sie mußte um die Sechzig sein. Ihre grünen Augen musterten mich scharf.
»Bin ich richtig bei Scheigel?«
»Was wollen Sie?«
Das fragte eine rauhe, von Alkohol und Zigaretten gegerbte Stimme.
»Ich ermittle für die Staatsanwaltschaft im Fall Böllig. Gestern habe ich mich mit Herrn Scheigel unterhalten, und da sind mir noch ein paar Fragen eingefallen.«
»Warten Sie.«
Sie schloß das Fenster. Kurz darauf ging die Tür auf.
»Kommen Sie rein.«
Sie trug einen verblichenen rosa Morgenmantel, der neu ein Vermögen gekostet haben mußte, ein paar halbhohe Hausschuhe und jede Menge Ringe und Armreifen. Ob sie echt waren, konnte ich nicht beurteilen. Schwarze Kerben hatten sich unter ihre Augen gegraben, und die Wangen waren weißlich und aufgedunsen. Ein verbrauchtes Gesicht, das die frühere Schönheit immer noch verriet.
Sie führte mich durch einen dunklen Flur zu einer Art Salon und bat, Platz zu nehmen. Zierliche Möbel aus einer anderen Zeit standen herum. An der Decke hing ein schwerer Kronleuchter, und es roch nach abgestandenem Blumenwasser. Die Vorhänge waren auch hier zugezogen, und das wenige Licht, das durchschien, tauchte den Raum in düsteres Halbdunkel, Ich setzte mich aufs Sofa und sah zu, wie sie eine Kerze anzündete. Dann zog sie aus ihrem Morgenmantel eine Packung russischer Zigaretten mit Papierende, knickte das Ende ein und steckte es in eine goldene Zigarettenspitze. Ich gab ihr Feuer, und sie ließ sich mir gegenüber in einem Sessel nieder.
»Also, was wollen sie von meinem Mann?«
»Ich will wissen, warum er nicht zum Arzt gegangen ist, nachdem man ihm den Schädel eingeschlagen hatte.«
Sie sah mich durch den Qualm ihrer Zigarette an.
»Sie sind nicht von der Staatsanwaltschaft.«
»So? Warum?«
»Darum.« Lächelnd setzte sie dazu: »Ich mag Lügner. Sie sind romantisch.«
»Ich bin Privatdetektiv.«
Sie sagte: »Sehen Sie.« Dann stand sie auf und zog aus dem Regal eine Flasche Wodka. Aus der Küche holte sie Eis.
»Nehmen Sie auch einen?«
Ich nickte. Sie schenkte zwei kostbare, handgeschliffene Gläser voll und wünschte »Zum Wohl«.
So wunderbaren Wodka hatte ich noch nie getrunken. Ich sagte es ihr. Sie lachte.
»Er ist direkt aus Rußland. Schmuggelware.«
An der Wand hing ein braunes Photo von einem kleinen Mädchen mit langen Zöpfen, das vor einer Runde Erwachsener auf einem Eßtisch tanzte.
»Sie kommen aus Rußland?«
»Polen. Warschau. Aber das ist schon lange her. Wenn ich mehr getrunken habe, hören Sie den Akzent.«
Ich mag es, wenn jemand beim Trinken sachlich bleibt.
»Und was hat Sie nach Doddelbach verschlagen?«
»Männer. Was sonst.«
Wir tranken aus, und sie schenkte nach.
»Sie leben schon lange hier?«
»Ein halbes Leben. Damals hat man genommen, was man kriegen konnte. Jetzt ist es zu spät. Ich werde hierbleiben.«
Ein Hustenanfall bemächtigte sich ihres ganzen Körpers, so, als würde er von Krämpfen geschüttelt. Sie entschuldigte sich.
»Alt sein ist ein Greuel. Alte Leute können nicht laufen, sabbern und schmatzen beim Essen. Spucken und husten… Oh, wie ich es hasse!« Dann nahm sie einen tiefen Schluck Wodka und meinte: »Jetzt geht es wieder.«
Ich suchte nach einer Frage, die von Husten und Alter ablenkte. Wann sie ihren Mann kennengelernt habe, erkundige ich mich schließlich, seinetwegen war ich immerhin hier.
»Interessiert Sie das wirklich?«
Ich nickte.
»Fragen Sie alte Leute nicht nach ihrem Leben, ihre Erinnerung ist ihr Leben, und je weniger war, desto mehr wissen sie darüber zu erzählen.«
Ich sagte, ihre Geschichte würde
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