Mein bis in den Tod
energiegeladene Mann erinnerte ihn oft an Groucho Marx.
Er hatte Oliver vor sechs Jahren aufgesucht, nachdem dieser im Radio ein Interview über die Behandlung von akuten Angstzuständen durch Hypnose gegeben hatte. Er war von seiner Verlobten verlassen worden, sein Selbstwertgefühl war damals auf dem absoluten Tiefpunkt. Oliver habe sein Leben verändert, sagte ihm Gerry damals.
»Gerry, dein Angebot, ich könnte dein Haus auf dem Land benutzen, wenn ich mal etwas Ruhe und Frieden brauche – gilt es noch?«
»Natürlich. Du kannst dort wohnen, solange du willst – fühl dich wie zu Hause. Ich weiß nicht mal, wann ich wieder hinfahre, aber bestimmt nicht an diesem Wochenende.«
»Ich brauch es nur für ein, zwei Tage.«
»Gut. Wann möchtest du hinfahren?«
»Heute Abend, wenn möglich.«
»Na ja, natürlich, ja. Ich hätte der Reinemachefrau gern gesagt, dass sie das Bett beziehen soll, aber –«
»Ist nicht wichtig.«
»Im Kühlschrank ist Brot. H-Milch. Jede Menge Wein und Bier im Keller. Nimm, was du brauchst. Iss, was du finden kannst.«
»Ich besorg ein paar Sachen.«
»Das musst du nicht. Du erinnerst dich, wo der Zweitschlüssel liegt?«
»Klar.«
»Und den Code für die Alarmlage?«
»Ja. Kannst du mir noch einen großen Gefallen tun, Gerry?«
»Und der wäre?«
»Du darfst niemandem sagen, wo ich bin. Keiner Menschenseele.«
»Kein Problem. Du machst Entsetzliches durch und musst von den Medien absolut die Nase voll haben. Ich schweige wie ein Grab. Einer meiner Vorfahren hat im 16. Jahrhundert sechs Monate Folter durch die Inquisition überlebt. Ihm wurden mit einer Daumenschraube sämtliche Finger und Zehen zerquetscht, weil er die Namen der angeblichen Ketzer nicht preisgegeben hat. Man hat ihn auf die Streckbank gelegt, ihn auf einen Nagelstuhl gesetzt, ihm einen Dehnapparat eingeführt und dabei seinen After so übel verletzt, dass er den Rest seines Lebens nie mehr auf einem Stuhl sitzen konnte. Oliver, wir Hammersleys können den Mund halten. Das liegt uns im Blut.«
Als er aufgelegt hatte, sagte Faith leise: »Wir müssen Alec abholen.«
»Wieso?«
»Weil Ross ihn gegen mich verwenden wird, wenn wir’s nicht tun.«
Ungläubig fragte er: »Du willst nach Hause fahren und ihn abholen?«
»Wir müssen es.«
»Faith, begreifst du, was mit dir passiert ist und was wir tun?«
»Ich – ich glaube ja.«
Er sprach alles mit ihr durch. Alle paar Sekunden stellte er sie auf die Probe, um sicherzugehen, dass sie klar genug im Kopf war und alles begriff. Offenbar war sie’s. Doch als er zu Ende gesprochen hatte, wollte sie immer noch unbedingt Alec abholen.
Er sah auf die Uhr: 20.35.
Sie berührte seinen Arm und wandte sich ihm zu, Angst im Blick. »Bitte, ich weiß, wozu Ross imstande ist. Wenn Alec etwas zustößt – wenn er ihm etwas antut, um es mir heimzuzahlen – ich glaube nicht, dass ich je –«
Ihm gefiel das alles nicht, aber er verstand sie. »Wir holen ihn ab«, sagte er. »Und zwar sofort.«
[home]
92
D ie Sicherheitskette lag vor. Rasputin bellte wie verrückt. Vor der Tür von Little Scaynes Manor schrie Faith: »Mama, mach die Tür auf!«
Ihre Mutter antwortete: »Ich ruf die Polizei. Es ist zu deinem Besten.«
Faith kreischte, hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. »Mach die Tür auf!« Sie drehte sich jählings zu Oliver um. »Dein Handy – ruf die Nummer hier an, schnell! Ruf an und blockier die Leitung, damit meine Mutter nicht nach draußen telefonieren kann.«
»Gib mir die Nummer.«
Sie sagte sie ihm. Oliver wiederholte die Nummer im Kopf, lief zum Wagen und wählte sie.
»Lass mich rein, ich schlage sonst ein Fenster ein!«, schrie sie, während sie klar zu denken versuchte. Der Schlüssel passte auch in die Küchentür auf der Rückseite des Hauses, aber sie war bestimmt ebenfalls mit einer Kette gesichert. Ihre Mutter hatte Angst, weil das Haus so abgeschieden lag.
»Mama!«, kreischte sie, noch lauter. »Mama! Verdammt, lass mich rein!«
Durch das Erkerfenster vor Ross’ Arbeitszimmer sah sie ihre Mutter: Sie stand am Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Faith wollte gerade zum Fenster laufen, anklopfen, es einwerfen, wenn nötig, als sie hinter der Tür eine Stimme hörte.
»Mama! Mama ist zu Hause!«
»Alec! Liebling! Mach die Kette los!«
Die Tür ging auf. Rasputin sprang aus dem Haus und hätte Faith beinahe umgeworfen. Alec sprang an ihr hoch, schlang ihr die Arme um den Hals und drückte sie an sich.
Oliver
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