Mein bis in den Tod
anderen zu bringen – bot sich ihnen dabei ein schöner Ausblick, dann war das reiner Zufall. Was Gary vorschlägt, hält niemanden davon ab, den Weg zu dem Zweck zu benutzen, für den er angelegt war. Man sollte den Leuten sagen, sie sollen woanders wandern.«
Jetzt ging’s ihr besser. Zufrieden blickte sie in die Runde der verdutzten Gesichter, dann rührte sie wieder ihren Kaffee um.
Nach der Sitzung fuhr Faith auf das Gelände einer Tankstelle, hielt weit entfernt von den Zapfsäulen und schaltete ihr Handy an. Es war kurz vor ein Uhr, ein Samstag. Am Abend gaben sie eine Dinner-Party. Zehn Gäste waren geladen, vier davon Ärzte, darunter auch einer, den sie besonders unsympathisch fand, Jules Ritterman, außerdem der Polizeichef von Sussex sowie ein Lordrichter, um dem Abend etwas Würdevolles zu verleihen. Sie musste noch alle Einkäufe erledigen und um halb vier Alec und vier seiner Freunde nach Hause fahren.
Drei scharfe Pieptöne verrieten ihr, dass sie eine Nachricht hatte. Von Oliver.
»Faith, hallo, wie geht’s dir? Ich müsste die Untersuchungsergebnisse spätestens morgen Nachmittag zurückhaben. Ich könnte dich am Montag oder übers Wochenende treffen, wenn du es einrichten kannst, aber du hast sicher Probleme, von zu Hause wegzukommen. Ruf mich im Büro an, ich habe angeordnet, dich sofort zu mir durchzustellen.«
Sie hörte die Nachricht ein zweites Mal ab, nur um erneut seine Stimme zu hören.
Dann hörte sie sich die Nachricht ein drittes Mal an und speicherte sie ab, damit sie ihre Mailbox – als eine Art Trostspender – anrufen und Olivers Stimme hören konnte, wann immer sie wollte.
Ich führe mich auf wie ein verliebter Teenager.
Ihr Verlangen nach Oliver war stark, beständig, beherrschte all ihre Gedanken.
Oliver Cabot.
Ihr Geheimnis.
Machte sie sich selbst etwas vor, was Oliver betraf? Hatte Ross Recht? War Oliver ein Scharlatan?
Niemals.
Sie hatte fast die ganze Nacht wachgelegen und sich ein Leben mit ihm ausgemalt, eine andere Art von Leben als ihr derzeitiges – weit entfernt von kleinlichen dörflichen Belangen, in einer größeren Dimension –, in dem sie mit ihm über alles redete, auf eine Art, in der sie sich mit Ross nie unterhielt. Sie dachte an die Gespräche, die sie in der kurzen Zeit, die sie mit Oliver zusammen war, geführt hatte, über das Leben, Religion, Philosophie, Kunst, Literatur, Reisen.
Bestimmt würde es Oliver Cabot irgendwie – wobei sie nicht wusste, wie, aber
irgendwie
– schaffen, dass sie wieder gesund wurde, im Unterschied zu den Pillen in dem Arzneifläschchen in ihrer Handtasche.
Es war ein Uhr. Eigentlich müsste sie jetzt zwei einnehmen. Oliver hatte ihr das zwar nicht verboten, sie aber auch nicht dazu ermuntert. Von ganz unten in ihrer Handtasche zog sie einen Zettel hervor, den er ihr zum Lesen gegeben hatte. Er hatte gesagt, der Text sei 1887 geschrieben worden, und dass sie ihn dreimal täglich lesen solle, zusammen mit den Pillen oder anstatt. Jetzt las sie ihn pflichtschuldig. Er hatte gesagt, dass nur noch wenige Ärzte ihn verstünden und noch weniger sich danach richteten.
Der weise Arzt beschränkt sich bei der Diagnose weder auf die Virulenz des beteiligten Mikroorganismus noch auf die Charakteristika eines anormalen Wachstums; er nimmt vielmehr eine sorgfältige Einschätzung des Lebenswillens des Patienten und dessen Fähigkeit vor, sich aller Hilfsquellen der Seele zu bedienen, die zu positiven biochemischen Veränderungen führen können.
Sie holte aus ihrer Handtasche das Fläschchen mit den Kapseln von Moliou-Orelan und schüttelte zwei heraus. Dann stieg sie, die Tabletten auf der Handfläche, aus dem Auto und warf sie in einen Abfalleimer.
Das fühlte sich gut an.
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56
D rei Stunden und 18 Minuten nach Beginn der Operation wurde die Trage unter Lady Reynes-Raleigh geschoben, dann wurde sie auf das fahrbare Krankenbett gehoben. Ihre Wange, die Nase, das Kinn und die Stirn waren nach ihren Anweisungen neu geformt worden, nun bedeckten Reihen feiner Nähte ihr Gesicht. Eines der Talente, für die man Ross hochgradig bewunderte, war die Qualität seiner Nähte. Nur wenige Chirurgen konnten das auch nur entfernt so gut.
Und doch sah ihr Gesicht, verfärbt durch die inneren Blutungen und Verletzungen, wie die Imitation eines Gemäldes aus Andy Warhols »gewalttätiger Periode« aus.
Weniger als fünf Minuten nachdem sie in den Aufwachraum geschoben worden war, kam sie langsam wieder zu
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