Mein bis in den Tod
hatten sie jeden Abend miteinander geschlafen, dann war ihr Mann, der auf einer Bohrinsel in der Nordsee arbeitete, auf Urlaub zurückgekommen. Heute Morgen war er wieder auf seine Bohrinsel zurückgeflogen.
Sevroula hatte Spider gesagt, niemand küsse so gut wie er.
In ein paar Stunden würde er sie am Personaleingang des Nachtclubs abholen.
Vielleicht könnten sie irgendwo noch ein Glas trinken. Anschließend würden sie in ihre Wohnung fahren, das Licht ausschalten, die Anlage laut aufdrehen, ein paar Linien von Onkel Ronnies bestem Koks ziehen und dann richtig loslegen.
Er zündete sich noch eine Marlboro an und fuhr noch mal an Oliver Cabots Haustür vorbei. Dunkelheit. Abgelegenheit. Feuertreppen. Nur vier Stockwerke hoch.
Kinderkram.
[home]
61
D urch einen winzigen Spalt in den Vorhängen fiel ein schmaler Streifen Sonnenlicht auf Faiths Gesicht. Sie wachte mit einem Lächeln im Gesicht auf, ihr Körper durchflutet von Wärme. Ross und sie hatten in der Portobello Road eingekauft und sich köstlich über einen grotesken antiken Dämon amüsiert, der mehrere hundert Jahre alt war – und aus Plastik. Waren in hilfloses Gelächter ausgebrochen. Hatten einander umarmt und sich ausgeschüttet vor Lachen. Das Leben zu zweit war so schön, und sie hatte gespürt, welch unglaubliche Liebe sie füreinander empfanden, die nichts,
gar nichts
je zerstören konnte.
Dann tauchte sie wieder in die Realität ein, wie in ein kaltes, tiefes Gewässer. Und die langen, schleimigen Tentakel der Realität wanden sich um ihre Beine und zogen sie noch tiefer hinab in eine Finsternis, die dunkler war als jede Nacht.
Vor fünf Tagen noch hatte sich die Zukunft vor ihr ausgebreitet, so grenzenlos wie während der Kindheit, am Beginn der Sommerferien, wenn sich die Wochen weiter vor einem ausdehnten, als man es sich vorstellen konnte. Dann gingen die Ferien plötzlich zu Ende, und auf einmal zählte man die letzten Tage, bevor das neue Schulhalbjahr begann und die Nächte länger wurden. Auch jetzt hatte sie dieses Ende-der-Sommerferien-Gefühl, nur schlimmer.
Sie lag da und fragte sich, ob sie noch einen Sommer erleben würde und ob sie eine Liste all dessen anfertigen sollte, was sie noch tun wollte, solange es ihr gut genug dafür ging.
Sie fröstelte. Was wollte sie noch erleben? Sie wollte sehen, wie Alec aufwuchs, heiratete, Kinder hatte, Großmutter sein –
Sie wollte nach Peru, Indien, Australien reisen, die Terrakotta-Armee in China sehen. Nach Jerusalem. Nach –
Tränen rollten ihr die Wangen hinab, aufs Kopfkissen. Ich darf so nicht denken. Ich darf das nicht zulassen, muss positiv denken. Oliver wird mich heilen. Er wird mich von dieser Sache befreien. Es geht mir gut heute, richtig gut.
Das Leben ging weiter. Menschen wurden geboren und starben. Seit Urzeiten gab es Lebewesen auf diesem Planeten, winzige Organismen, mikroskopisch kleine Einzeller, Bakterien, Plankton, Ameisen, Käfer. Und sie hatte gelesen, dass sie noch lange auf der Erde leben würden, nachdem das Menschengeschlecht längst ausgestorben war. Einige Gattungen der Küchenschabe konnten selbst in atomar verseuchten Gegenden leben. Sie nahmen keine Notiz von den Menschen, brauchten sie nicht und würden sie nicht vermissen, wenn sie verschwunden waren. Wir werden nicht einmal Vergangenheit sein, dachte sie.
Und diese nierenförmigen Lebewesen in ihr, die sie durch Olivers Mikroskop gesehen hatte, diese quantengroßen lebenden Organismen, die sich in ihren Eingeweiden und ihrem Nervensystem ausbreiteten und welche sie als lebenden Kadaver in ihrer Nahrungskette missbrauchten, diese Lendtschen Wesen – und deren Nachkommen – würden noch lange da sein, nachdem sie gestorben war. Nachdem alle gestorben waren.
Und während sie dem Gezwitscher der Vögel lauschte, hatte sie plötzlich das Gefühl, als wären sie nicht wirklich. Nichts in ihrem Leben kam ihr inzwischen ganz real vor.
Im Haus hörte man ein anderes Geräusch. Raue Stimmen. Wechselnde Klangeffekte und Musik. Zeichentrickfilme im Fernsehen klangen in ihren Ohren immer wie ein schlecht eingestelltes Radio, dessen Lautstärke zu weit aufgedreht ist. Jetzt hörte sie einen dieser Filme, leise, ein unklarer Laut, der durch alle sechs Wände drang, die ihr Schlafzimmer von Alecs trennten.
Was bedeutete, dass Alec wach war.
Es war Samstag. An den hellen Sonnenflecken auf den Vorhängen sah sie, dass es ein schöner Sommermorgen war. Der Wecker neben ihrem Bett zeigte Viertel
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