Mein digitales Ich
detailreicher und schneller. Wir müssen uns also alle Vor- und Nachteile bewusst machen und selbst entscheiden, wo wir technisch erzeugte Gewohnheiten zulassen wollen und wo nicht.«
Der computerintegrierte Mensch ist keine Science-Fiction mehr. Ganz im Gegenteil: Wie wir bereits an diversen Beispielen erläutert haben, ist er längst real beworden. Das bedeutet einerseits, dass sich zwischen unserem Körper und unserem »natürlichen« Bewusstsein eine zwischengeschaltete technische Instanz etabliert, die zwischen Körper und Selbst sowie zwischen uns und der Umwelt vermittelt, filtert und eventuell sogar interveniert. In dem Freud’schen Spiel zwischen Ich, Es und Über-Ich könnte demnach ein weiterer, in diesem Fall künstlicher Spieler auftauchen. Dieser neue »Spieler« hat vermutlich nicht nur Auswirkungen auf das Individuum, sondern auch auf das, was man als soziale Beziehung bezeichnen könnte. Wie verändert sich der zwischenmenschliche Umgang, wenn er in weiten Teilen technisch vermittelt stattfindet? Mit diesen und vielen weiteren Fragen beschäftigt sich James Burke, einer der Initiatoren, der die Quantified-Self-Bewegung nach Europa gebracht und bereits mehrere Konferenzen zum Thema organisiert hat. Im Telefon-Interview hat uns der in Amsterdam lebende Brite eine mögliche Perspektive skizziert, wie sehr ein digital quantifiziertes und technisch vermitteltes Leben unseren zukünftigen Alltag verändern könnte.
» Auf eine gewisse Art entzaubern Zahlen das Leben. Das nimmt uns die Überraschung. Und bringt uns in eine neue Realität. Es ist schon seltsam, einen Menschen als Zahl in einer Datenbank zu betrachten. Aber ich denke, wir müssen einfach unseren gesunden Menschenverstand benutzen. In der Quantified-Self-Szene gibt es natürlich auch Leute, die es übertreiben. Eine Frau, die ich kenne, hatte auf elf verschiedene Arten ihr Verhalten gemessen. Das hat dazu geführt, dass sie depressiv wurde. Denn sie war nicht in der Lage, ihr Verhalten zu ändern. Diese Zahlen wurden für sie zum Fluch. Eine Tragödie, die sie als dunkle Seite der Quantifizierung beschrieben hat. Es wurde erst besser, als sie aufhörte, ihr Verhalten zu messen. Ich glaube, diese Aspekte müssen Hersteller von Messgeräten und Onlinediensten mehr berücksichtigen.«
Welchen Einfluss hat die digitale Quantifizierung des Selbst auf das, was wir heute als Privatsphäre bezeichnen?
»Da ist es eigentlich genauso wie in allen anderen Bereichen der heutigen digitalen Welt auch. Wie bei sozialen Netzwerken zum Beispiel. Natürlich gibt es immer mehr Daten über uns, die jeden Tag im Netz landen. Und natürlich sollte es eigentlich so sein, dass wir als Nutzer die Kontrolle über unsere Daten haben. Das ist bis heute leider nicht der Fall. Wenn man in den öffentlichen Raum sieht: überall Kameras, die uns überwachen, unsere Bewegungen messen. Jede Technologie hat auch ihre Schattenseiten. Die Sensoren und Messgeräte der Quantified-Self-Bewegung können natür l ich auch zur Überwachung missbraucht werden. Wenn ich auf eine öffentliche Toilette gehe, könnte theoretisch mein Urin analysiert werden. Auf einer Rolltreppe könnte man mein Gewicht messen. Oder im Arbeitsbereich: Immer mehr Firmen verlangen Blut- und Drogentests. Was passiert mit den Daten? Oder Versicherungen: Schon heute wollen Versicherungen die Familiengeschichte wissen. Was passiert, wenn sie an unsere Gen-Daten kommen und sagen: Du musst höhere Beiträge zahlen, weil deine Gene zeigen, dass du anfällig für die Krankheit XY bist? Natürlich kann man auch Versicherungen verstehen: Eine solche Krankheit zu behandeln kann ja auch mehr kosten, als der Durchschnittsbeitrag hergibt. Aber ist das fair? Diese Fragen müssen wir als Gesellschaft beantworten. Genau deshalb ist es umso wichtiger, dass wir selbst die Kontrolle über unsere Daten bekommen. Heute ist es aber wie gesagt eher so, dass man keine Kontrolle darüber hat und man überwacht wird.«
Was glauben Sie, wie sehr verändert diese digitale Ausrichtung des Menschen unsere zwischenmenschlichen Beziehungen?
»Noch ist es sicherlich so, dass die meisten Nutzer erst mal nur von der Technik fasziniert sind. Aber wir müssen uns schon fragen, in welche Richtung das alles gehen soll. Denn die digitale Selbstvermessung wird natürlich auch unser Sozialleben verändern. Stellen Sie sich vor, Sie gehen in eine Bar, und Sie wissen sofort, ob die Person neben Ihnen sexuell erregt ist. Das ist durchaus
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