Mein erfundenes Land
versteht sich. Die chilenischen Frauen, selbst die betuchten, lackieren sich nicht die Fingernägel, denn das würde ja bedeuten, daß sie nicht mit den Händen arbeiten, und es gehört zum Schlimmsten, wenn man als Faulenzerin tituliert wird. Wer früher einen Bus bestieg, sah sämtliche Frauen darin stricken; damit ist es vorbei, weil tonnenweise gebrauchte Kleidung aus den Vereinigten Staaten und Polyestermüll aus Taiwan ins Land kommen, und so ist das Stricken Geschichte geworden.
Unsere notorische Nüchternheit soll angeblich das Erbe erschöpfter spanischer Eroberer sein, die halb verhungert und verdurstet, weniger von der Gier als von Verzweiflung getrieben, Chile erreichten. Diese beherzten Pioniere – die letzten bei der Verteilung der Beute der Konquista – mußten über tückische Pfade die Anden überqueren, sich unter sengender Sonne durch die Atacamawüste quälen oder den Wogen der todbringenden Stürme vor Kap Horn trotzen. Die Entschädigung war kaum der Mühe wert, denn Chile bot nicht wie andere Gegenden des Kontinents die Möglichkeit zu exorbitantem Reichtum. Die Gold- und Silberminen ließen sich an einer Hand abzählen, und das Edelmetall aus dem Fels zu brechen war eine unmenschliche Schinderei; für prosperierende Tabakplantagen, für Kaffee oder Baumwolle taugte das Klima nicht. Unser Land war schon immer eher arm; alles, was ein Siedler erwarten durfte, war ein ruhiges Leben als Landmann.
Früher war Prahlerei, wie gesagt, völlig inakzeptabel, aberdas hat sich leider zumindest in Santiago geändert. Dort tut man sich heute gern groß, fährt etwa am Sonntagvormittag zum Supermarkt, packt sich den Einkaufswagen mit den teuersten Waren voll – Kaviar, Champagner, Filetspitzen –, dreht ein Weile Runden, damit alle die Einkäufe bewundern können, läßt den Karren dann vor irgendeiner Regalreihe stehen und macht sich mit leeren Händen davon. Außerdem soll ein großer Teil der Handys aus Holz sein; man kann bloß damit angeben. Noch vor einigen Jahren wäre so etwas undenkbar gewesen; in Villen wohnten nur neureiche Araber, und niemand, der ganz bei Trost war, hätte einen Pelzmantel getragen, selbst bei polarer Kälte nicht.
Die erfreuliche Seite dieser – falschen oder aufrichtigen – Bescheidenheit war natürlich die Schlichtheit. Keine pompösen Feiern zum fünfzehnten Geburtstag mit rosa gefärbten Schwänen, keine hochherrschaftlichen Hochzeiten mit vierstöckigen Torten, keine von Orchestern untermalten Partys für Schoßhündchen wie in anderen Hauptstädten unseres schwelgerischen Kontinents. Die Nüchternheit war ein auffälliger Wesenszug von uns, bis man den Kapitalismus vor ein paar Jahrzehnten von der Leine ließ und es Mode wurde, reich zu sein und danach auszusehen, aber ich hoffe, wir werden bald zum Altbekannten zurückkehren. Die Mentalität eines Volkes ist zählebig. Ricardo Lagos, der seit Beginn des Jahres 2000 Präsident ist, lebt mit seiner Familie zur Miete in einem Viertel, das sich nicht für etwas Besseres hält. Staatsgäste aus anderen Ländern staunen über sein bescheidenes Haus und noch mehr, wenn sie sehen, daß der Hausherr die Drinks serviert und die First Lady beim Auftragen der Speisen zur Hand geht. Auch wenn die Rechte Lagos nicht verzeiht, daß er nicht »einer wie sie« ist, bewundert sie doch sein schlichtes Auftreten. Der Präsident und seine Gattin sind typische Vertreter einer Mittelklasse alten Schlags. Sie haben keine elitären, religiös geprägten Privatschulen, sondern kostenlose staatliche Schulen und Universitätenbesucht, an denen der Unterricht laizistisch und humanistisch geprägt ist. Sie gehören zu jenen Chilenen, für die Gleichheit und soziale Gerechtigkeit grundlegende Werte darstellen, und scheinen von der materialistischen Besessenheit der heutigen Zeit unbeleckt. Bleibt zu hoffen, daß ihr Beispiel dazu beiträgt, den zwischen Supermarktregalen verlassenen Einkaufswagen und den Handys aus Holz ein für allemal ein Ende zu machen.
Die in meiner Familie so tief verwurzelte Nüchternheit und unser Hang, Freude oder Wohlstand zu verbergen, waren vielleicht ein Ausdruck der Scham, die wir angesichts des uns umgebenden Elends empfanden. Daß wir mehr als andere besaßen, schien uns nicht nur eine gottgegebene Ungerechtigkeit, sondern auch eine Art persönlicher Sünde. Zum Ausgleich mußten wir Buße und gute Werke tun. Die Buße bestand darin, uns werktags von Bohnen, Linsen und Kichererbsen zu ernähren und im Winter
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