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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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zu frieren. Die guten Werke waren eine Aufgabe der Familie, der fast ausschließlich die Frauen nachzukommen hatten. Schon als ganz kleine Mädchen gingen wir an der Hand unserer Mütter oder Tanten, um Kleider und Essen an die Armen zu verteilen. Diese Sitte ist vor etwa fünfzig Jahren ausgestorben, doch nach wie vor nehmen die Chilenen die Pflicht, dem Nächsten zu helfen, freudig an, wie es sich für ein Land gehört, in dem es nicht an Möglichkeiten dazu mangelt. In Chile gehen Armut und Solidarität Hand in Hand.
    Zweifellos klafft die Schere zwischen Reich und Arm wie fast überall in Lateinamerika weit auseinander. Aber die Chilenen verfügen, wie arm sie auch sein mögen, über ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau, halten sich auf dem laufenden und kennen ihre Rechte, auch wenn sie sie nicht immer durchsetzen können. Dennoch sind die häßlichen Folgen der Armut allenthalben sichtbar, besonders in Krisensituationen. Dann ist die Großzügigkeit der Chilenengefragt, die sich am besten an einem Brief illustrieren läßt, den mir meine Mutter im Winter 2002 aus Chile schrieb, als das halbe Land von Überschwemmungen heimgesucht und unter einem Ozean aus Dreckwasser und Schlamm begraben wurde.
    »Es hat seit Tagen geregnet. Plötzlich läßt es nach, es fällt ein feiner Niesel, der uns weiter durchfeuchtet, und als der Sprecher des Innenministeriums eben von einer Wetterbesserung redet, kommt der nächste Wolkenbruch und fegt ihm mit einer Bö den Hut vom Kopf. Die Menschen werden wieder hart geprüft. Wir haben das wahre Gesicht des Elends in Chile gesehen, die Armut, die sich als untere Mittelklasse tarnt und am meisten leidet, weil sie sich Hoffnungen macht. Diese Leute ackern ein Leben lang für ein anständiges Häuschen, und die Bauunternehmer betrügen sie: Die Häuser sind von außen sehr hübsch angemalt, Abwasserleitungen gibt es aber keine, und mit dem Regen stehen sie nicht nur unter Wasser, sondern lösen sich auf wie nasses Brot. Die einzige Ablenkung von der Katastrophe ist die Fußballweltmeisterschaft. Iván Zamorano, unser Fußballidol, hat eine Tonne Lebensmittel gespendet, ist den ganzen Tag in den überfluteten Vierteln unterwegs, spielt mit den Kindern und verteilt Bälle. Du kannst Dir nicht vorstellen, welch leidvolle Szenen sich hier abspielen; immer trifft es die am härtesten, die am wenigsten haben. Die Zukunft sieht düster aus, durch das Unwetter stehen die Äcker unter Wasser, und der Sturm hat ganze Obstplantagen entwurzelt. In Magallanes sterben die Schafe zu Tausenden, sind im Schnee gefangen und den Wölfen ausgeliefert. Natürlich zeigt sich überall die Solidarität der Chilenen. Männer, Frauen und Jugendliche stehen schlammverschmiert bis zu den Knien im Wasser und versorgen die Kinder, verteilen Kleider, stützen ganze Wohnviertel ab, die das Wasser in die Schluchten zu reißen droht. Auf der Plaza Italia ist ein riesiges Zelt aufgebaut; dieLeute werfen im Vorbeifahren Pakete mit Wolldecken und Essen aus dem Auto in die Arme der wartenden Studenten. Das Kulturzentrum Estación Mapocho ist zu einer riesigen Notunterkunft geworden, auf der Bühne treten die Künstler von Santiago auf, Rockgruppen und sogar das Symphonieorchester spielen und zwingen die durchgefrorenen Leute zum Tanzen, damit sie wenigstens für ein Weilchen ihr Unglück vergessen. Das ist eine harte Lektion in Demut. Der Präsident besucht zusammen mit seiner Frau und den Ministern die Notunterkünfte und spricht den Leuten Trost zu. Das beste ist, daß die Verteidigungsministerin, Michelle Bachelet, deren Vater von der Diktatur ermordet wurde, das Militär aus den Kasernen geholt hat und für die Opfer arbeiten läßt, und sie selbst ist mit dem Oberkommandierenden in ein Panzerfahrzeug gestiegen und ist Tag und Nacht unterwegs, um zu helfen. Du siehst: Jeder tut, was er kann! Bleibt abzuwarten, was die Banken tun, die sind in diesem Land so bar jeden Anstands, daß es zum Himmel schreit.«
    Anderer Leute Erfolg macht die Chilenen unausstehlich, doch angesichts fremden Unglücks verhalten sie sich wunderbar; aller Kleinmut ist vergessen, und mit einem Schlag sind sie die solidarischsten und großzügigsten Menschen der Welt. Im Fernsehen finden jedes Jahr mehrere Spendenmarathons statt, und die Leute, vor allem die, die wenig haben, stürzen sich in einen wahren Wettstreit darum, wer am meisten gibt. An Gelegenheiten, an das öffentliche Mitgefühl zu appellieren, herrscht kein Mangel in einem Land,

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