Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
egoismo
zu folgen.
Bei solchen Eventualitäten wundert es mich nicht, dass in Frankreich eine Diskussion über die Schaffung eines »inneren Kerns« der EU stattfindet. Ich halte für möglich, dass wir eines Tages dahin kommen. Aber einstweilen halte ich die Debatte für verfrüht. Einstweilen möchte ich am Prinzip der schrittweisen Integration aller Mitgliedsstaaten festhalten. Einstweilen würde ich es für einen schweren Fehler halten, etwa den Verfassungsentwurf des Konvents aufzugeben. Ich möchte im Gegenteil die hier Versammelten dazu aufrufen, politisch und publizistisch für den Verfassungsentwurf einzutreten!
Ich will am Schluss zwei Fußnoten hinzufügen. Zum einen: Sofern es im Laufe späterer Jahre zur Bildung eines »inneren Kerns« der EU kommen sollte – sei es
de facto
oder
de jure
–, so würde doch infolge des gemeinsamen Marktes und der gemeinsamen Währung Euro die ökonomische Integration Europas zwangsläufig fortschreiten.
Die andere Fußnote betrifft die Gemeinsamkeit Frankreichs und Deutschlands. Unter all unseren europäischen Nachbarn war Frankreich derjenige, der zuallererst uns Deutschen Zusammenarbeit und, später, Versöhnung angeboten hat. Die europäische Integration ist gleichfalls von Frankreich ausgegangen, von hier kamen immer wieder die entscheidenden Anstöße zu weiteren Schritten. Dies geschah nicht nur aus Idealismus im Sinne Victor Hugos, der schon vor anderthalb Jahrhunderten 1848 in Paris die Einigung Europas proklamiert hat, sondern es geschah vornehmlich im nationalen Interesse Frankreichs. Frankreich wollte Deutschland einbinden. Und Frankreich wollte gemeinsam mit seinen Nachbarn den Gefahren aus der Welt entgegengehen.
Beide diese Zielsetzungen haben wir Deutschen akzeptiert und haben sie uns zu eigen gemacht. Deutschland ist, angesichts seiner Geschichte im 20 . Jahrhundert und ebenso angesichts seiner geographischen Lage inmitten sehr vieler Nachbarn, noch stärker aus nationalem Interesse auf Frankreich und auf die Integration angewiesen.
Ich setze meine Erwartung darauf, dass die Vernunft der Staatsmänner an unserer Spitze diese fundamentalen Einsichten nicht untergehen lassen wird – so wie Giscard d’Estaing und ich zu unserer Zeit sie auch nicht haben untergehen lassen.
Ich danke Ihnen!
Europa braucht einen Kern ( 2004 )
Die Spannungen infolge des 11 . September 2001 hatten ein weiteres Mal deutlich gemacht, dass von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäer auch nicht ansatzweise die Rede sein konnte. Im Gegenteil, der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld unterschied in Europa zwischen willigen und unwilligen Partnern, das »alte Europa«, zu dem er Deutschland und Frankreich zählte, von den »neuen« NATO -Mitgliedern in Osteuropa, die »auf der Seite der USA stehen«. Im Frühjahr 2004 traten der Europäischen Union weitere zehn Mitgliedsstaaten bei – mit Ausnahme Zyperns und Maltas allesamt aus dem Osten und Südosten Europas.
I m Rückblick erscheint das Jahr 1992 als der bisherige Höhepunkt der europäischen Einigung. Es war das Jahr des Entschlusses zur gemeinsamen Währung und zur Einladung an eine Reihe bisher kommunistisch regierter Staaten, an der Spitze Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, der EU beizutreten. Gleichzeitig sind aber von diesem Zeitpunkt an zunehmend schwerwiegende Versäumnisse zu beklagen. Die Institutionen der EU und die Verteilung der Kompetenzen zwischen ihnen, die Verfahrensregeln und die finanzpolitischen Regeln waren auf einen Verbund von sechs Staaten zugeschnitten, für einen Verbund von neun Staaten hatten sie gerade noch ausgereicht; für den Verbund von zwölf und schließlich 15 Staaten – jeder Einzelne mit Vetorecht in jeder Frage – waren sie insgesamt bereits unzureichend. Die Regierungschefs und die Minister der Mitgliedsstaaten haben die Defizite nicht rechtzeitig erkannt. Als sie schließlich ihre Versäumnisse begriffen, erwiesen sie sich als unfähig, Abhilfe zu schaffen. Seit Maastricht 1992 haben sie zwar drei weitere Regierungskonferenzen in Amsterdam, Nizza und Rom/Brüssel abgehalten; der Aufwand war groß, der Erfolg jedoch fast gleich null.
Dennoch lud man zwölf weitere Staaten – und zusätzlich die Türkei, wenn auch nur bedingt und undeutlich – zum Beitritt ein. Eine übereifrige Exekutive, die Kommission in Brüssel, führte die Beitrittsverhandlungen so zügig, dass im Frühjahr 2004 tatsächlich zehn zusätzliche Mitgliedsstaaten
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