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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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aber auf der gleichen Seite gekämpft haben, und wegen der ungeheuren Verluste an Menschenleben ist das Verhältnis zwischen Moskau und Bonn sehr viel schwieriger und diffiziler gewesen. Dies gilt noch viel mehr für Polen und für die deutsche Politik gegenüber Warschau. Die Judenvernichtung durch Hitler fand vor allem in Polen statt, Auschwitz liegt auf polnischem Boden! Natürlich haben die kommunistischen Führer die bösen Erinnerungen ihrer Völker auch benutzt, um sie gegen die Deutschen und gegen den Westen insgesamt einzunehmen. Ich glaube, die Erinnerung an den Holocaust wird ähnlich lange eine Rolle spielen und Deutschland belasten wie die Verschleppung der Juden aus Jerusalem durch Nebukadnezar.
    Deshalb liegt mir bis auf den heutigen Tag die Normalisierung des Verhältnisses zu den Polen, den Russen, den Tschechen sehr am Herzen. Ich bin 1966 zum ersten Mal in Moskau, in Warschau und in Prag gewesen. Aber die Normalisierung und die Versöhnung bleiben noch lange Zeit eine schwierige moralische Aufgabe. Es ist zugleich eine politische Aufgabe! Im Vergleich dazu ist jede französische Regierung in ihrer Politik gegenüber den Völkern im Osten Europas gänzlich unbefangen!
    6 . Doch zurück zu Ihren Fragen. Nach meiner Erinnerung hat es in den achtziger Jahren zweimal eine Divergenz zwischen Paris und Bonn in der Einstellung gegenüber der Sowjetunion gegeben. Das erste Mal während der gemeinsamen Amtszeit von Valéry Giscard und mir. Die USA hatten ihre Teilnahme an der Moskauer Olympiade zugesagt und vorbereitet. Als Vergeltung wegen des sowjetischen Überfalls auf Afghanistan änderte der amerikanische Präsident, sehr spät und unerwartet, plötzlich seine Meinung und bedrängte öffentlich seine Verbündeten, ihm zu folgen. Frankreich und England und die allermeisten Staaten sind gleichwohl zur Olympiade gefahren. Allein drei Staaten haben dem amerikanischen Druck nachgegeben, nämlich Norwegen, die Türkei und die Bundesrepublik; weil diese drei unmittelbar dem militärischen Druck der Sowjetunion ausgesetzt waren und deshalb unmittelbar auf den militärischen Beistand der USA angewiesen wären, sofern es zu einer ernsten Zuspitzung gekommen wäre. Ich war damals sehr sauer auf Washington, keineswegs auf Paris oder London. Aus heutiger Sicht ist jene Episode ohne bleibende Bedeutung geblieben.
    Dagegen war der andere Fall der Divergenz von weitaus größerer Bedeutung. Als sich im Herbst 1989 die Möglichkeit, oder auch nur die Denkbarkeit einer deutsch-deutschen Vereinigung am Horizont abzeichnete, versuchten Paris und London gemeinsam, sich einer solchen Entwicklung zu widersetzen. Präsident Mitterrand machte einen demonstrativen Besuch in der Sowjetunion und einen weiteren demonstrativen Besuch in der DDR . Zu jener Zeit war ich längst ein Publizist, ein Privatmann, ein bloßer Beobachter. Ich habe damals die Politik von François Mitterrand und Maggie Thatcher sehr schmerzhaft, aber nur von weitem miterlebt.
    Ich habe zwar sehr deutlich den diplomatischen Fehler in Helmut Kohls Verfahren gesehen, aber in der Substanz war ich seiner Meinung: Die unerwartete Chance musste ergriffen und genutzt werden. Das tatsächliche Ergebnis ist danach zuallermeist wohl George Bush, dem Vater, zu verdanken.
    7 . Es bleibt noch die Frage, ob ich 1980 gemeinsam mit Präsident Giscard d’Estaing der Meinung gewesen sei, Europa solle eine gemeinsame Außenpolitik haben – sowohl gegenüber Moskau als auch gegenüber Washington. Ich meine, diese Frage bejahen zu dürfen. Wir haben allerdings nicht alle sechs Monate große Erklärungen oder Reden darüber vorgetragen, wir haben auch keine großen Programme entwickelt. Wohl aber wusste jedermann in Europa, aber ebenso in Moskau und in Washington: Jeder Versuch, Paris und Bonn gegeneinander auszuspielen, endet als Fehlschlag.
    Es ist wahr, dass manch einer über das Tandem Paris/Bonn gelästert hat. Aber im Grunde haben wir im Rahmen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft immer mit offenen Karten gespielt.
    Dafür war der von Giscard erfundene Europäische Rat von entscheidender Bedeutung. Alle Halbjahr trafen sich die neun Regierungschefs im kleinen Kreise; zwar selbstverständlich von Ministern, Beamten und Diplomaten vorbereitet, aber ohne vorherige große Ankündigungen, ohne Fernsehen, ohne Presse, ohne tendenziöse Indiskretionen durch eifrige und übereifrige Zuträger.
    So konnten wir die Direktwahl zum Europäischen Parlament vorbereiten

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