Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
wenigen Jahrzehnten wäre die Türkei der volkreichste Staat der EU .
Aus englischer Sicht wären sowohl die Türkei als auch andere zusätzliche Mitgliedsländer durchaus willkommen, denn gegen eine Degeneration der EU zur Freihandelszone hat man in London nichts einzuwenden, eher im Gegenteil. England ist der EU nicht aus Überzeugung beigetreten, nicht aus der Erkenntnis, dass ein Beitritt im strategischen englischen Interesse liegt, sondern um Einfluss auf die Entwicklung Europas zu behalten. Dieses Motiv war entscheidend für die Premierminister Macmillan, Wilson, Thatcher und heute Blair; Edward Heath war die Ausnahme. Die Mehrheit der englischen Wähler empfindet ähnlich insular wie die Premierminister, sie neigt stärker zur Anlehnung an die USA als zum Verzicht noch so kleiner Teile ihrer Souveränität. Deshalb ist England auch der gemeinsamen Euro-Währung nicht beigetreten. Es ist kaum zu erwarten, dass London Initiativen zur Überwindung der Stillstandskrise ergreift, denn aus englischer Sicht ist der Stillstand ungefährlich, jeder Schritt hin zu einer stärkeren Integration dagegen unerwünscht.
Eine ähnliche, wenngleich weniger ausgeprägte Haltung ist für die nächsten Jahre auch in Polen, in der Tschechischen Republik und im Baltikum zu erwarten.
Wenn die polnische Nation in absehbarer Zukunft gezwungen würde, sich zwischen den USA und der EU zu entscheiden, fiele die Entscheidung zugunsten Amerikas. Je mehr ein Volk unter der Bedrückung und Besatzung durch die Sowjetunion – und vorher durch Hitlers Deutschland – gelitten hat, umso deutlicher ist seine Neigung zu Amerika.
Der schwerwiegende Meinungsstreit über den Irak-Krieg und über die Bewältigung seiner höchst unübersichtlichen Folgen sowie die einstweilen noch ungelöste Frage einer Verfassung der EU tun ein Übriges, die Zukunft der EU heute unklarer erscheinen zu lassen als in allen früheren Jahrzehnten. Mehrere Möglichkeiten der künftigen Entwicklung sind denkbar:
Der ungünstigste Fall wäre das Andauern des gegenwärtigen Zustands und in der Folge der allmähliche Verfall der EU zu einer Freihandelszone mit einigen wenigen zusätzlichen Institutionen. Selbst unter dieser Voraussetzung würden aber der Gemeinsame Markt und die gemeinsame Währung funktionieren. Denn keiner der Mitgliedsstaaten könnte die großen Nachteile auf sich nehmen, die als Folge eines Rückzuges aus diesen Einrichtungen unvermeidlich wären; selbst England, an der gemeinsamen Währung unbeteiligt, würde nur unter außergewöhnlichen Umständen aus dem Gemeinsamen Markt ausscheren können. Der Euro würde in jedem Fall die zweitwichtigste Währung der Weltwirtschaft bleiben. Er würde in Europa zu einem gemeinsamen Kapitalmarkt der beteiligten Staaten und dadurch zu einer starken gegenseitigen ökonomischen Integration der am Euro beteiligten Staaten führen. Weitere EU -Mitgliedsstaaten würden deshalb wahrscheinlich dem Euro beitreten wollen.
Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU wäre jedoch undenkbar. Vielmehr würden die USA auf längere Zeit die Außen- und die Verteidigungspolitik der europäischen Staaten weitgehend dirigieren.
Etwas günstiger könnte die europäische Entwicklung verlaufen, würden – bei Nichtinkrafttreten einer europäischen Verfassung oder eines Grundvertrages – wenigstens einige der drängendsten Probleme einvernehmlich gelöst werden. Zum Beispiel könnte für bestimmte Bereiche künftig Ratsbeschluss durch qualifizierte Mehrheit gelten, nicht mehr, wie noch heute, durch Einstimmigkeit. Wünschenswert wären des weiteren eine einvernehmliche Aufteilung der Stimmrechte auf die Mitgliedsstaaten, eine Einschränkung der Aufgaben und Zuständigkeiten der Kommission sowie eine umfassende Zustimmungspflicht des Europäischen Parlaments zu allen künftigen Gesetzen (und ähnlichen Regeln) der EU . Auch in diesem Fall würde es zwar keine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik geben, wahrscheinlich auch keine gemeinsame Haltung zu den Problemen der Zuwanderung, der Energiepolitik, der Beeinträchtigung des Klimas und so weiter. Immerhin aber wären der Ausbau des Gemeinsamen Marktes und eine gemeinsame Regulierung der Finanzmärkte, der Banken und Finanzhäuser denkbar.
Die gemeinsame Verfassung der EU oder ein Grundvertrag wären den hier skizzierten Alternativen natürlich bei weitem vorzuziehen. Wenn einer oder mehrere Staaten die Ratifikation der Verfassung verweigern sollten (zum Beispiel als
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