Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
feierlich in die EU aufgenommen wurden, obwohl die Institutionen für jetzt 25 Staaten immer noch fast genauso unzureichend sind wie zwölf Jahre zuvor für damals nur halb so viele Staaten; zum Beispiel besteht die Exekutive heute aus 25 Personen, dabei wäre schon eine Kommission mit 15 Personen voll ausreichend. Eine Änderung der Institutionen und Verfahren, nunmehr aufgrund eines Entwurfes zu einer Verfassung, den ein in den geltenden Verträgen nicht verankerter Konvent und vor allem dessen Präsident Giscard d’Estaing erarbeitet haben, bedarf der Ratifikation durch alle 25 Mitgliedsstaaten. Bis zum Inkrafttreten der Verfassung werden noch einige Jahre vergehen. An dem seit 1992 anhaltenden Stillstand der EU wird sich vorerst wenig ändern.
In den Jahren 2002 / 03 haben die Regierungen in Washington, London und Madrid im Streit über den amerikanischen Angriff auf den Irak versucht, die EU außenpolitisch aufzuspalten. Die Regierungen von sechs weiteren Mitgliedsstaaten und von einigen Kandidatenländern haben sich angeschlossen. Weder Tony Blair noch José Maria Aznar oder Silvio Berlusconi haben im Europäischen Rat der Regierungschefs den ernsthaften Versuch einer Einigung auf eine gemeinsame Position unternommen, aber auch Jacques Chirac und Gerhard Schröder haben dies nicht getan.
Die einen haben sich bedingungslos hinter die USA gestellt und eigene Streitkräfte entsandt; die anderen haben den Anschein einer gegen die USA gerichteten Ad-hoc-Allianz mit dem russischen Staatschef Putin hervorgerufen und den Eindruck erweckt, als ob sie andere Mitglieder der EU bevormunden wollten. Zwar hatten fast alle in den Jahren zuvor grandiose Reden über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gehalten – der deutsche Außenminister schwärmte sogar von einer gemeinsamen europäischen Regierung –, und gemeinsam hatten sie den Spanier Solana zum außenpolitischen Sprecher der EU berufen. Aber nun erwiesen sich alle diese Proklamationen als bloßes Geschwätz.
Zu Beginn des 21 . Jahrhunderts befindet sich die EU in einer tief greifenden Krise nicht nur ihrer Institutionen und ihrer außenpolitischen Handlungsfähigkeit, sondern zugleich auch ihrer ökonomischen und sozialen Strukturen. In den meisten der 25 heutigen Mitgliedsstaaten herrscht eine ungewöhnlich hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, die im wesentlichen durch staatliche Überregulierung und Bürokratisierung, durch populistische Lohnpolitik und – teilweise – durch extrem ausgeweitete Sozialleistungen selbst verschuldet worden ist; die hervorstechenden Ausnahmen in Holland oder Dänemark bestätigen die Regel. In allen Mitgliedsstaaten findet sowohl eine Überalterung als auch gleichzeitig eine Schrumpfung der Gesellschaft statt.
Die Regierungen und die Parlamente gehen an strukturelle Reformen nur zögernd heran, weil sie unpopulär sind und deshalb Stimmen kosten. Die Brüsseler Kommission hat auf die Modernisierung der gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen in den Mitgliedsstaaten nur geringen Einfluss; ihre Initiativen laufen im übrigen meist nur auf zusätzliche Reglementierung hinaus. Durch die zehn EU -Beitritte des Jahres 2004 , vor allem durch den Beitritt Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik, erhöht sich die Einwohnerzahl der EU um zwanzig Prozent, das gemeinsame Sozialprodukt aber nur um fünf Prozent. Die zehn neuen Mitgliedsstaaten produzieren im Durchschnitt pro Einwohner nur gerade halb so viel wie die 15 alten Mitgliedsstaaten.
Wer den gegenwärtig kritischen Zustand der EU erkennt, muss eine längere Pause für nötig halten, ehe weitere Beitritte in Betracht kommen. Zunächst müssen die bestehenden institutionellen, ökonomischen und politischen Defizite bewältigt werden. Denn ein Scheitern der EU oder eine Schrumpfung zu einer bloßen Freihandelszone ist nicht mehr undenkbar. Ein baldiger Beitritt der armen Balkanstaaten oder der Türkei würde die finanzielle Leistungsfähigkeit der EU und ihren Zusammenhalt ernsthaft gefährden. Im Falle der Türkei sind darüber hinaus nicht nur die erheblichen kulturellen Unterschiede gegenüber Europa zu bedenken, sondern auch die kulturelle Verwandtschaft der Türken mit den Muslimen in Asien und Nordafrika. Es kommt hinzu, dass die Türkei das einzige Mitgliedsland mit einer wachsenden Bevölkerung wäre. Das Land zählt heute fast siebzig Millionen und am Ende des 21 . Jahrhunderts wahrscheinlich einhundert Millionen Menschen. Das bedeutet: Schon in
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