Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
und zu neunt in die Wege leiten. Dabei vertrauten wir stillschweigend darauf, das gewählte Parlament würde sich schon selbst seine Bedeutung erkämpfen oder verschaffen.
So auch das Europäische Währungssystem – bei dem wir stillschweigend davon ausgingen, dass der ECU uns nicht nur von wilden Wechselkursschwankungen und von der Dominanz des Dollars befreien würde, sondern auch, dass der ECU sich zur gemeinsamen Währung entwickeln würde.
Entscheidend war, dass wir – getreu dem Vorbild Jean Monnets – immer einen Schritt nach dem anderen vorbereitet, vorgeschlagen und gemacht haben. In den siebziger Jahren von sechs auf neun Mitgliedsstaaten; in den achtziger Jahren von neun auf zwölf, in den neunziger Jahren (nach der Implosion der Sowjetunion) von zwölf durch die drei Neutralen auf 15 Mitgliedsstaaten.
Es war wohl ein Anfall von Megalomanie, dass eine andere Führungsgeneration 1992 in Maastricht beschlossen hat, auf einmal zwölf Staaten plus, bedingt, die Türkei zum Beitritt zur EU einzuladen – und dies unter der Geltung aller Verfahrensregeln, die für sechs oder auch noch neun Mitglieder gemacht und ausreichend gewesen waren, die aber bei 25 oder 27 Mitgliedsstaaten in ein Chaos einmünden können.
Seit Maastricht haben wir drei weitere große Regierungskonferenzen erlebt ohne irgendeinen zu Buch schlagenden Fortschritt. Zum Teil waren sie vielmehr durch hemmungslosen nationalen Egoismus einiger Regierungen gekennzeichnet. Als man gar nicht mehr weiter wusste, hat jemand den Konvent erfunden. Dieser hat unter der umsichtigen Leitung durch Giscard im Sommer 2003 einen durchaus brauchbaren Entwurf für eine Verfassung der EU vorgelegt. Natürlich waren dafür mancherlei Kompromisse notwendig. Aber die Regierungen haben Ende des letzten Jahres den Willen zu Kompromissen nicht aufbringen können. Auch dass Paris und Bonn gemeinsam für den Entwurf eintraten, hat nichts genützt; sie hatten ihre gemeinsame Autorität in den Augen mehrerer der anderen Regierungen schon in Amsterdam und in Nizza verspielt.
Wichtiger aber war der anlässlich des von Amerika beabsichtigten zweiten Irak-Krieges von Washington, zum Teil auch von London ausgehende Versuch, die EU aufzuspalten. Als sich der Wille der amerikanischen Regierung abzeichnete, den Krieg auch ohne Beschluss des Sicherheitsrates auf jeden Fall zu führen, haben sowohl Paris als auch Bonn psychologisch und diplomatisch ungeschickt reagiert. In der Sache hatten sie freilich recht. Und sie sind durch die jetzt entstandene Lage im Irak und im ganzen Nahen und Mittleren Osten voll gerechtfertigt.
Der unilaterale, zugleich hegemoniale Anspruch Washingtons hat die Krise der EU entscheidend verschärft. Er hat zugleich eine Krise der NATO ausgelöst. Es ist denkbar, dass man in der späteren Rückschau erkennen wird, weniger das Kolossalverbrechen der Al-Qaida am 11 . September 2001 als vielmehr der Irak-Krieg und seine heute noch kaum vorhersehbaren Folgen haben die Lage der Welt, vor allem aber auch die Lage Europas tiefgreifend verändert und neue Risiken geschaffen.
Die öffentliche Meinung ist fast überall in Europa gegen diesen Krieg gewesen. So auch in England. Dass gleichwohl die englische Regierung mit aller ihrer Kraft und mit ihren Streitkräften von vornherein an der Seite der USA sich am Krieg beteiligt hat, hat mich nicht überrascht. Ich habe mich im letzten Jahr besonders lebhaft an Charles de Gaulle erinnert – an seine Meinung über Englands emotionale Bindung an Amerika und infolgedessen Englands zu erwartende Rolle als Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft.
Die Zukunft der EU ist heute unklarer als jemals während des ersten halben Jahrhunderts seit Beginn der europäischen Integration. Der Streit über den von vornherein nicht sehr klugen Stabilitätspakt ist dabei nur ein kleiner Faktor; ebenso die Wichtigtuereien der Brüsseler Kommission. Der Streit über die künftigen Regeln für die Verfahren der EU und über die Kompetenzen der Organe ist ein wichtiger Faktor der Ungewissheit. Noch wichtiger ist der Streit über Irak. Und abermals wichtiger können sich die vorhersehbaren Meinungsgegensätze auswirken, wenn sich ein weltweiter »clash of civilizations« zwischen dem Islam und dem Westen entwickeln sollte. Und ebenso, wenn die USA auf ihrem strategischen Anspruch beharren sollten, präventive Kriege zu beginnen und dabei auf die UN und ihre Satzung keine Rücksicht zu nehmen, sondern ihrem
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