Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
dieser Stelle ist eine sorgfältig abgewogene Mahnung an die deutschen Politiker, an die Medien und an unsere öffentliche Meinung insgesamt notwendig.
Wenn wir Deutschen uns verführen ließen, gestützt auf unsere ökonomische Stärke, eine politische Führungsrolle in Europa zu beanspruchen oder doch wenigstens den Primus inter Pares zu spielen, so würde eine zunehmende Mehrheit unserer Nachbarn sich wirksam dagegen wehren. Die Besorgnis der Peripherie vor einem allzu starken Zentrum Europas würde ganz schnell zurückkehren. Die wahrscheinlichen Konsequenzen solcher Entwicklung wären für die EU verkrüppelnd. Und Deutschland würde in Isolierung fallen.
Die sehr große und sehr leistungsfähige Bundesrepublik Deutschland braucht – auch zum Schutze vor uns selbst – die Einbettung in die europäische Integration. Weil man das schon vor zwanzig Jahren erkannt hat, gilt seit Helmut Kohls Zeiten, seit 1992 der Artikel 23 des Grundgesetzes, der uns zur Mitwirkung »… bei der Entwicklung der Europäischen Union« verpflichtet. Der Artikel 23 verpflichtet uns für diese Mitwirkung auch zu dem »Grundsatz der Subsidiarität …«. Die gegenwärtige Krise der Handlungsfähigkeit der Organe der EU ändert nichts an diesen Grundsätzen des deutschen Grundgesetzes.
Unsere geopolitische Zentrallage, dazu unsere unglückliche Rolle im Verlaufe der europäischen Geschichte bis in die Mitte des 20 . Jahrhunderts, dazu unsere heutige Leistungsfähigkeit, all dies zusammen verlangt von jeder deutschen Regierung ein sehr hohes Maß an Einfühlungsvermögen in die Interessen unserer EU -Partner. Und unsere deutsche Hilfsbereitschaft ist unerlässlich.
Wir Deutschen haben doch unsere große Wiederaufbauleistung der letzten sechs Jahrzehnte auch nicht allein und nur aus eigener Kraft zustande gebracht. Sondern sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Hilfen der westlichen Siegermächte, nicht ohne unsere Einbettung in die europäische Gemeinschaft und in das atlantische Bündnis, nicht ohne die Hilfen durch unsere Nachbarn, nicht ohne den politischen Aufbruch im Osten Mitteleuropas und nicht ohne das Ende der kommunistischen Diktatur. Wir Deutschen haben Grund zur Dankbarkeit. Und zugleich haben wir die Pflicht, uns der empfangenen Solidarität würdig zu erweisen durch unsere eigene Solidarität mit unseren Nachbarn!
Dagegen wäre ein Streben nach einer eigenen Rolle in der Weltpolitik und das Streben nach weltpolitischem Prestige ziemlich unnütz, wahrscheinlich sogar schädlich. Jedenfalls bleibt die enge Zusammenarbeit mit Frankreich und mit Polen unerlässlich, mit allen unseren entfernten Nachbarn und Partnern in Europa.
Nach meiner Überzeugung liegt es im kardinalen, langfristig-strategischen Interesse Deutschlands, sich nicht zu isolieren und sich nicht isolieren zu lassen. Eine Isolation innerhalb des Westens wäre gefährlich. Eine Isolation innerhalb der Europäischen Union oder des Euro-Raumes wäre hoch gefährlich. Für mich rangiert dieses Interesse Deutschlands eindeutig höher als jedwedes taktische Interesse aller politischen Parteien. Die deutschen Politiker und die deutschen Medien haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diese Einsicht nachhaltig in der öffentlichen Meinung zu vertreten.
Wenn aber jemand zu verstehen gibt, heute und künftig werde in Europa Deutsch gesprochen; wenn ein deutscher Außenminister meint, fernseh-geeignete Auftritte in Tripolis, in Kairo oder in Kabul seien wichtiger als politische Kontakte mit Athen, Lissabon, mit Madrid, mit Warschau oder Prag, mit Dublin, Den Haag, Kopenhagen, Oslo oder Helsinki; wenn ein anderer meint, eine europäische »Transfer-Union« verhüten zu müssen – dann ist das alles bloß schädliche deutsche Kraftmeierei.
Tatsächlich ist Deutschland doch über lange Jahrzehnte ein Nettozahler gewesen! Wir konnten das leisten und haben es seit Adenauers Zeiten getan. Und natürlich waren Griechenland, Portugal oder Irland immer Netto-Empfänger. Diese Solidarität mag heute der deutschen politischen Klasse nicht ausreichend bewusst sein. Aber bisher war sie selbstverständlich gewesen. Ebenso selbstverständlich – und außerdem seit Lissabon vertraglich vorgeschrieben – ist das Prinzip der Subsidiarität: Das, was ein Staat nicht selbst regeln oder bewältigen kann, das muss die Europäische Union übernehmen.
Alle parteipolitische, alle innenpolitische, alle außenpolitische Taktik hat nie das langfristig-strategische Interesse der
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