Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
kann man uns am Ende nicht mehr in Prozentzahlen messen, sondern nur noch in Promillezahlen.
Daraus ergibt sich das langfristige strategische Interesse der europäischen Nationalstaaten an einem integrierenden Zusammenschluss. Dieses strategische Interesse an der europäischen Integration wird zunehmend an Bedeutung gewinnen. Es ist bisher den Nationen weitestgehend noch nicht bewusst. Es wird ihnen durch ihre Regierungen auch nicht bewusst gemacht.
Falls jedoch die Europäische Union im Laufe der kommenden Jahrzehnte nicht zu einer – wenn auch begrenzten – gemeinsamen Handlungsfähigkeit gelangen sollte, so ist eine selbstverursachte Marginalisierung der einzelnen europäischen Staaten und der europäischen Zivilisation insgesamt nicht auszuschließen. Ebenso wenig kann in solchem Falle das Wiederaufleben von Konkurrenz- und Prestigekämpfen zwischen den Staaten Europas ausgeschlossen werden. In solchem Falle könnte die Einbindung Deutschlands kaum noch funktionieren. Das alte Spiel zwischen Zentrum und Peripherie könnte abermals Wirklichkeit werden.
Wenn wir am Ende des Jahres 2011 Deutschland von außen betrachten mit den Augen unserer mittelbaren und unmittelbaren Nachbarn, dann löst Deutschland seit einem Jahrzehnt Unbehagen aus – neuerdings auch politische Besorgnis. In den allerletzten Jahren sind erhebliche Zweifel in die Stetigkeit der deutschen Politik aufgetaucht. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit der deutschen Politik ist beschädigt.
Dabei beruhen diese Zweifel und Besorgnisse auch auf außenpolitischen Fehlern unserer deutschen Politiker und Regierungen. Sie beruhen zum anderen Teil auf der für die Welt überraschenden ökonomischen Stärke der vereinigten Bundesrepublik. Unsere Volkswirtschaft hat sich – beginnend in den siebziger Jahren, damals noch zweigeteilt – zur größten in Europa entwickelt. Sie ist technologisch, sie ist finanzpolitisch und sie ist sozialpolitisch heute eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften auf der ganzen Welt. Unsere wirtschaftliche Stärke und unser seit Jahrzehnten vergleichsweise sehr stabiler sozialer Friede haben auch Neid ausgelöst – zumal unsere Arbeitslosigkeitsrate und auch unsere Verschuldungsrate durchaus im Bereich der internationalen Normalität liegen. Allerdings ist uns selbst nicht ausreichend bewusst, dass unsere Wirtschaft in hohem Maße sowohl in den gemeinsamen europäischen Markt integriert als auch zugleich in hohem Maße globalisiert und damit von der Weltkonjunktur abhängig ist. Wir werden im kommenden Jahr erleben, dass die deutschen Exporte nicht mehr sonderlich wachsen können.
Gleichzeitig hat sich aber eine schwerwiegende Fehlentwicklung ergeben, nämlich anhaltende enorme Überschüsse unserer Handelsbilanz und unserer Leistungsbilanz. Die Überschüsse machen seit Jahren etwa fünf Prozent unseres Sozialproduktes aus, sie sind ähnlich groß wie die Überschüsse Chinas. Das ist uns nicht bewusst, weil es sich nicht mehr in DM -Überschüssen niederschlägt, sondern in Euro-Überschüssen. Es ist aber notwendig für unsere Politiker, sich der enormen deutschen Zahlungsbilanzüberschüsse bewusst zu sein.
Denn alle unsere Überschüsse sind in Wirklichkeit die Defizite der anderen europäischen Staaten. Die Forderungen, die wir an andere haben, sind deren Schulden – oder anders gesagt: Ihre Schulden sind unsere Forderungen. Es handelt sich um eine ärgerliche Verletzung des 1967 zum gesetzlichen Ideal erhobenen »außenwirtschaftlichen Gleichgewichts«. Diese Verletzung musste unsere Partner beunruhigen. Und wenn es neuerdings ausländische, meistens amerikanische oder englische Stimmen gibt – inzwischen kommen sie von vielen Seiten –, die von Deutschland eine europäische Führungsrolle verlangen, so weckt all dies zusammen bei unseren Nachbarn zugleich zusätzlichen Argwohn. Und es weckt böse Erinnerungen.
Diese ökonomische Entwicklung und die gleichzeitige Krise der Handlungsfähigkeit der Organe der Europäischen Union haben Deutschland abermals in eine zentrale Rolle gedrängt. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten hat die Bundeskanzlerin diese Rolle willig akzeptiert. Aber es gibt in vielen europäischen Hauptstädten und ebenso in den Medien mancher unserer Nachbarstaaten abermals eine wachsende Besorgnis vor deutscher Dominanz. Dieses Mal handelt es sich nicht um eine militärisch und politisch überstarke Zentralmacht, wohl aber um ein ökonomisch überstarkes Zentrum! An
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