Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Verteidigungsminister und kenne daher die Materie – zur Verteidigung des westlichen Teils von Mitteleuropa und zur Abschreckung jedweden Angriffs, zumal wenn dann die holländischen und die belgischen Wehrpflichtverbände hinzugerechnet werden, außerdem jene amerikanischen und englischen Verbände aus Berufssoldaten, die wohl auch in späterer Zeit, wenn auch verringert, auf dem Kontinent verbleiben werden.
Im zweiten Kapitel muss man feststellen, dass für diese zusätzlichen Mobilmachungsdivisionen in Frankreich wie in Deutschland gegenwärtig viele Fahrzeuge, konventionelle Waffen, und auch moderne konventionelle Waffen zur Bekämpfung der gegnerischen Luftwaffe und konventionelle Munition fehlen. Das gilt für Frankreich in noch größerem Maße als für uns. Die Bereitstellung des fehlenden Materials würde vielleicht drei oder vier oder fünf Jahre dauern. Vor allem würde sie zusätzliche Finanzmittel erfordern.
Das führt zu dem dritten Kapitel. Die nötigen Finanzmittel wären auf deutscher Seite zu einem erheblichen Teil zu erwirtschaften durch Verzicht auf jedwede taktisch-nukleare Doppelbewaffnung unseres Heeres und auf weitestgehenden Abbau der nuklearen Doppelrolle der deutschen Luftwaffe.
Auch auf französischer Seite wäre eine gewisse Schwergewichtsverlagerung der Haushaltsaufwendungen von den nuklearen zu den konventionellen Ausstattungen wohl möglich und nötig. Im übrigen ist von deutscher Seite eine umfangreiche Mitfinanzierung für gemeinsame Waffenentwicklungen konventioneller Art und Produktion vorzusehen.
Natürlich kann bei alledem nach meiner Einsicht und meiner festen Überzeugung auf die Nordatlantische Allianz mit den Vereinigten Staaten, auf die amerikanische Aufklärungskapazität, auf die nuklearstrategische Abschreckung durch die USA wirklich nicht verzichtet werden. Wohl aber kann dann unter der Voraussetzung gemeinsamer Verfügbarkeit von dreißig französischen und deutschen Divisionen im Mobilmachungsfall tatsächlich die Präsenz amerikanischer Heeresverbände in Europa wesentlich verringert werden. Und in Klammern und leise füge ich hinzu: Und Europa könnte dann auch nicht mehr mit der Drohung amerikanischer Abzüge behelligt werden.
Das vorgestellte Konzept würde sich selbstverständlich im Rahmen des Nordatlantischen Vertrages bewegen, zugleich im Rahmen des WEU -Vertrages. Es bedürfte keines neuen völkerrechtlichen Vertragsinstruments; es bedürfte nur gemeinsamer Beschlüsse in Ausführung des Élysée-Vertrages. Die Benelux-Länder und Großbritannien könnten zur Beteiligung eingeladen werden. Zugleich könnten sie einige ihrer Truppen auf ihren heimatlichen Boden zurückverlegen.
Ich sage noch einmal: Dies geht alles selbstverständlich nicht ohne den Rückhalt durch die Vereinigten Staaten von Amerika, auch nicht ohne den Rückhalt durch Großbritannien. Der ist unentbehrlich.
Wenn sich Paris und Bonn zu solchen Reformen entschließen sollten, 35 Jahre nach Gründung der NATO , so würde – das zeigen die Meinungsumfragen in Frankreich wie in Deutschland – die öffentliche Meinung Frankreichs wohl zu zwei Dritteln positiv reagieren und die öffentliche Meinung der Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich zu drei Vierteln positiv reagieren. Die Aufnahme in Amerika wäre zunächst teilweise auch kritisch zu erwarten. Letztlich würde aber die amerikanische Regierung sehen, dass hier tatsächlich etwas Durchgreifendes zur Stärkung der konventionellen Verteidigung Europas geschieht, wie es die USA immer wieder verlangt haben, und dass hier tatsächlich die sogenannte nukleare Schwelle angehoben und damit ein nuklearer Krieg in Europa unwahrscheinlicher gemacht wird.
Die Aufnahme in England wäre vermutlich abwartend und zögerlich. Man würde sich dort vermutlich zunächst distanziert geben. Im Falle des Erfolges der französisch-deutschen Initiative würde man vielleicht später beitreten wollen. Die Aufnahme in der Sowjetunion wäre vermutlich zunächst propagandistisch kritisch zu erwarten: angebliche Aufrüstung Westeuropas, Vergleich mit den Heeren Hitlers oder Napoleons. Tatsächlich aber würde die sowjetische Führung die Anhebung der Nuklearschwelle innerlich begrüßen. Und sie würde auch wissen, dass dreißig mobilisierte Divisionen der Franzosen und der Deutschen zusammen zum Angriff auf die sowjetischen Truppenmassen viel zu schwach wären, weil sie gegenüber sowjetischer Mobilisierung zahlenmäßig weit unterlegen wären. Von einer
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