Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Bedrohung der Sowjetunion könnte ernsthaft nicht die Rede sein.
Bei alledem muss die rüstungspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland wie bisher bei Noratlas, Transall, Alpha-Jet, Larsaque, Hot, Milan, Roland und wie das alles heißt und die technologische Zusammenarbeit in der Luft- und Raumfahrt wie beim Airbus, Ariane und Symphonie weitergehen. Das ist alles bisher recht erfolgreich gewesen und müsste verbreitert werden.
Mir scheint: Die Zeit ist reif für einen französisch-deutschen gemeinsamen Ansatz auf dem Felde der Verteidigung. Und der würde dann zugleich der politischen Eigenständigkeit Europas dienen. Wenn die EG auf wirtschaftlichem Gebiet wirklich nicht vorankäme, so würde jedenfalls von der sicherheitspolitischen Seite her ein neuer Führungsanstoß möglich sein. Beides zusammen wäre umso besser. Europa würde dann endlich wieder an politischem Gewicht zunehmen.
An dieser Stelle – gegen Schluss – möchte ich eine kleine Abschweifung versuchen. Ich möchte versuchen, mich in die Lage des französischen Staatspräsidenten hineinzudenken.
Seine Presse in Paris interpretiert die Friedensbewegung und die Grünen in Deutschland – weitgehend wohl zu Unrecht – als tendenziell neutralistisch, als tendenziell integrationsfeindlich. Aber diese Bewegungen begegnen in Frankreich zunehmender Besorgnis.
Der Präsident weiß zugleich, dass die bisherige französische Nuklearstrategie die Deutschen hinsichtlich ihrer Verteidigung in ausschließlicher Abhängigkeit von den USA belässt. Er könnte also zu dem Schluss kommen, dass ein französisch-deutscher Ansatz zu gemeinsamer Verteidigung auch deutsches Selbstvertrauen festigen und den die Franzosen beunruhigenden, bei uns angeblich beobachteten Tendenzen einen wichtigen Teil des Wachstumsbodens entziehen kann. Er könnte deshalb zu dem Entschluss gelangen, dass die Aufgabenstellung der autonomen französischen Force de frappe durch einseitige Erklärung auch auf den Schutz Deutschlands erstreckt wird. Er würde uns Deutschen kein Mitspracherecht einräumen wollen, jedenfalls nicht ausdrücklich, sondern lediglich insofern, als etwa deutsches Territorium als Abschussbasis oder als Zielgebiet infrage käme, er gäbe Deutschen ausdrücklich weder einen Finger am Abzugshahn noch am Sicherungsbügel. Er könnte aber sagen: Ich erkenne an, dass wir Franzosen für die Sicherheit Deutschlands mitverantwortlich sind; denn umgekehrt haben ja die Deutschen längst schon Verantwortung auch für die Verteidigung Frankreichs an der Elbe über- nommen.
Wenn aber Frankreich seine autonome Nuklearmacht auch auf die Abschreckung zugunsten Deutschlands erstrecken sollte, so müsste Deutschland dann allerdings für die anderen Teile des Programms seine Kapital- und Finanzkraft einbringen. Beide Seiten würden ihre soldatischen Fähigkeiten, Frankreich würde seine große geschichtliche Militärtradition in die gemeinsame Verteidigung einbringen.
Am Schluss ein Wort zur französischen Führung Europas. Frankreich ist zwar nicht wirtschaftlich und finanziell der Bundesrepublik Deutschland überlegen, wohl aber fünffach in anderer Beziehung.
Frankreich ist erstens eine autonome nukleare Macht. Frankreich ist zweitens Inhaber eines ständigen Sitzes mit Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Frankreich ist drittens Schutzmacht für Berlin. Wir Deutschen hingegen sind Garantieempfänger hinsichtlich Berlins. Frankreich trägt viertens als Potsdamer Siegermacht Verantwortung für Deutschland als Ganzes. Fünftens ist Frankreich ungeteilt und es ist sich seiner historischen Identität gewiss. Deutschland hingegen leidet an der Teilung, es leidet an der Scham über Hitler und Auschwitz, und es gibt viele Ungewissheiten.
Eine Weltrolle Frankreichs an der Spitze eines französisch-deutschen Tandems ist möglich, jedenfalls würde ein solches Tandem de facto zugleich zur politischen Führung der Europäischen Gemeinschaft führen, auch wenn wir dabei keineswegs – ich stimme mit dem Bundeskanzler überein – von einem Europa à deux vitesses reden sollten.
Deutschland und Frankreich wollen beide in Frieden mit dem russischen Nachbarn leben. Wir wollen uns beide vor dem Nachbarn sicher fühlen. Aber auf der Grundlage dieser Sicherheit wollen wir beide mit diesem Nachbarn zusammenarbeiten, auf dem Felde der Rüstungsbegrenzung zumal, aber auch auf dem wirtschaftlichen und kulturellen Gebiet. Deswegen sollten wir zu keiner Zeit
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