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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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dass ich heute genauso wenig Anlass sehe wie damals, an dem Brief zu zweifeln, den Sie als Bundesminister mir als Kanzler im Frühjahr 1982 geschrieben haben. Ich denke jedoch auch, dass Sie nicht erst bei Anklageerhebung und Einleitung des Verfahrens, sondern schon zu einem früheren Zeitpunkt Ihren Abschied hätten nehmen sollen.
    Ich will mit drei Sätzen die Betrachtung der wirtschaftlichen Lage Europas zusammenfassen, wie sie sich aus dem Bericht des Bundeskanzlers zu London und zu Fontainebleau ergibt. Trotz schließlicher Einigung über den britischen Haushaltsbeitrag ist es bei den Schwächen der EG geblieben. Die Europäische Gemeinschaft hat nicht genug Eigengewicht, um die USA zu einer gemeinverträglichen Haushalts-, Wechselkurs- und Zinspolitik zu drängen. Eine gemeinsame Initiative der Staaten der EG zur Beseitigung oder zur Verringerung der Arbeitslosigkeit ist nicht erkennbar.
    Dies Letztere haben die Wähler – mit zwei kleinen Ausnahmen – bei den europäischen Wahlen am vorletzten Wochenende genauso gesehen. Sie sind – erstens – nur in sehr geringer Zahl zur Wahlurne gegangen, weil sie von Europa gegenwärtig keine Hilfe in ihren wirtschaftlichen Sorgen erwarten. Und zweitens: Sie haben, soweit sie gewählt haben, die eigenen Regierungen und Regierungsparteien bestraft und die jeweiligen äußersten Oppositionsparteien belohnt, zum Beispiel die Rechtsradikalen in Frankreich, die Kommunisten in Italien oder die Grünen hier in Deutschland.
    Ich will ein Wort zur strategischen Lage Europas hinzufügen, die in London und auch in Fontainebleau ebenfalls behandelt worden ist; der Bundeskanzler hat darüber Ausführungen gemacht. Die sieht nun allerdings keineswegs besser aus. In diesem Frühjahr haben zwei führende Amerikaner, der Republikaner Henry Kissinger und der Demokrat Senator Samuel Nunn, uns Europäern angedroht: Entweder ihr Europäer tut mehr für eure konventionelle Verteidigung oder wir Amerikaner werden unsere Truppen aus Europa in erheblichem Maße abziehen. Beide Personen haben große Autorität, und beide sind unbezweifelbar Freunde und überzeugte Anhänger des Bündnisses zwischen Nordamerika und Europa.
    Gleichwohl haben beide in einigen wichtigen Punkten unrecht. Zum einen: Wer seine eigenen Freunde und Alliierten unter Nötigung setzt, gefährdet das gegenseitige Vertrauen. Zum anderen: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nicht die verteidigungspolitischen Wohltäter Europas, und wir Europäer sind nicht die Wohlfahrtsempfänger. Vielmehr bedürfen die USA als Seemacht des europäischen Kontinents auf der Gegenseite des Atlantiks, genauso wie wir Europäer des strategischen Rückhalts durch die USA bedürfen. Und drittens – für mich gegenwärtig am wichtigsten –: Eine Verringerung der Truppen in Europa führt zwangsläufig zu einer weiteren Absenkung der sogenannten nuklearen Schwelle. Sie würde im Verteidigungsfalle früher überschritten als heute beabsichtigt; das genaue Gegenteil, die Anhebung der nuklearen Schwelle, ist aber das, was notwendig ist.
    Präsident Reagan hat diesen Antrag im Senat in der vorigen Woche abwehren können, aber er hat selbst wiederholt höhere Verteidigungsausgaben der Europäer verlangt. Geldausgeben an sich ist nach meinem Urteil noch keine Sicherheitsstrategie; das will ich deutlich sagen.
    Wenn von Verteidigung die Rede ist, stehen für mich an erster Stelle vielmehr die Soldaten, die Männer in Uniform, sodann zählt ihre Motivation, und an dritter Stelle zählt ihre militärische Ausbildung, ihre Fähigkeit zum Entschluss und zu dessen Verwirklichung, und dann erst, an vierter Stelle, zählen Fahrzeuge, Flugzeuge, Schiffe, Waffen und Gerät. Das heißt, es geht nicht ohne Haushalt; vor allem aber macht das Ganze nur im Rahmen einer Gesamtstrategie Sinn, zu der auch die Rüstungskontrollpolitik gehört, die den Frieden bewahren hilft und die nicht etwa androht, das zu zerstören, was wir gemeinsam verteidigen wollen.
    Deshalb haben jene Amerikaner und alle anderen recht, welche die nukleare Schwelle anheben wollen, damit nicht bei der Verteidigung das zerstört wird, was wir verteidigen wollen. Eine weitere Zuspitzung des gegenwärtigen zweiten Kalten Krieges zwischen Moskau und Washington ist durchaus denkbar. Damit wird dann auch eine weitere einseitige Konzentration auf nuklearstrategische Waffensysteme und auch ein weiteres Ausbleiben von Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsverträgen durchaus denkbar; man kann das nicht

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