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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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also im Grunde sehr optimistisch, auch was die Beteiligung Italiens an der Währungsunion angeht, die übrigens für Monnet selbstverständlich gewesen wäre. Optimistisch deshalb, weil im Grunde die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – später genannt Europäische Gemeinschaft, noch später genannt Europäische Union – inzwischen schon fünf schwere interne Krisen überwunden hat. Die erste Krise entstand durch das vorhin erwähnte Scheitern des Pleven-Plans, also der Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, im Jahre 1954 . Alle Krisen wurden überwunden, weil die leitenden Politiker oder – um das schöne Wort zu gebrauchen – die Staatsmänner sich in diesen Krisen schließlich und endlich doch auf die der ganzen Konzeption zugrunde liegenden vitalen strategischen Interessen der eigenen Nation besonnen haben. Einige haben länger gebraucht, ein paar Jahre, diese strategischen Interessen selbst zu erkennen und zu akzeptieren und entsprechend zu agieren. Einige andere haben sie viel früher verstanden.
    Ich will Ihnen diese strategischen Motive noch einmal wiederholen, wie sie sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt haben: Bei Jean Monnet – ähnlich wie bei der Rede von Winston Churchill in Zürich im Herbst 1946 – hat sicherlich ein doppeltes Motiv am Anfang gestanden. Zum einen die Bildung einer Barriere gegen stalinistischen Expansionismus und gegen das Vordringen der kommunistischen Ideologie im Süden Europas – auch in Frankreich – und zum anderen die Einbindung Deutschlands in eine größere Einheit. Deutschland, das war damals Westdeutschland mit rund vierzig Millionen Menschen, inzwischen ist es ein vereinigtes Deutschland mit rund achtzig Millionen Menschen. Die Einbindung Deutschlands, die Selbsteinbindung Deutschlands, ist heute noch wichtiger, als sie damals war. Monnet war einer von denen – übrigens Churchill auch –, die von Anfang an gewusst haben, das geht nur, wenn die Franzosen bereit sind, sich selbst auch einzubinden. Ich will hierbei lediglich anfügen, weil Churchill ein Engländer war, machte er ganz klar, England würde nicht dazugehören, England habe ja das Commonwealth. Etwas Ähnliches könnte man heute noch aus dem Munde einiger englischer Politiker oder Politikerinnen hören.
    Im Laufe der sechziger Jahre kam ein anderes strategisches Motiv hinzu: das wirtschaftsstrategische Motiv – weil inzwischen jedermann in Europa erkennen konnte, dass die Beteiligung am Gemeinsamen Markt für die eigene Nation, für die eigene Volkswirtschaft erhebliche ökonomische Vorteile mit sich brachte, die man allein auf sich gestellt so nicht hätte erreichen können. Das Motiv des ökonomischen Vorteils ist sehr viel später zum Beispiel auch das Motiv für den Beitritt Österreichs gewesen oder Schwedens oder Finnlands.
    Im Laufe der neunziger Jahre – im Zeitalter der sogenannten Globalisierung der Wirtschaft – ist ein viertes strategisches Motiv hinzugekommen. Man muss sich klarmachen, was das Schlagwort der Globalisierung eigentlich bedeutet, vielleicht auch, was es verdeckt. Es sind nämlich mehrere Faktoren, die das Phänomen der sogenannten Globalisierung herbeigeführt haben.
    Der erste Faktor ist der unglaubliche technologische Fortschritt, zum Beispiel auf dem Felde des Verkehrs (Containerverkehr über die Ozeane oder des Luftverkehrs), noch stärker auf dem Felde der Telekommunikation mit Hilfe von Satelliten und Computern, dazu die erstaunlichen technischen Fortschritte im Finanzverkehr rund um den Erdball, 24  Stunden am Tage, wobei die smarten jungen Leute tagsüber in Hemdsärmeln vor ihren Screens sitzen, nachts das Handy neben dem Kopfkissen liegen haben, um jederzeit agieren und reagieren zu können. Der erste Faktor für die Globalisierung ist also der weltumspannende technologische Fortschritt.
    Der zweite Faktor ist die Tatsache, dass – beginnend in den achtziger Jahren, aber dann kataraktartig zu Beginn der neunziger Jahre – sich die Zahl der Teilnehmer an der Weltwirtschaft verdoppelt hat. Als wir Mitte der siebziger Jahre – ich sage wir und meine den französischen Präsidenten und den deutschen Kanzler – die sogenannten Weltwirtschaftsgipfel ins Leben riefen, angesichts einer weltwirtschaftlichen Krise, nämlich einer Preisexplosion für Erdöl und Erdgas, da meinte man de facto die westliche Weltwirtschaft, man meinte die Handvoll OECD -Staaten plus Japan. Von Korea und Taiwan redete man damals noch als »little tigers«.

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