Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Inzwischen sind das sehr erwachsene Tiger geworden. Mittlerweile sind sämtliche ehemaligen Republiken der Sowjetunion auch Teilnehmer der Weltwirtschaft geworden, des weiteren alle Staaten des ehemaligen COMECON , oder wie es auf Deutsch hieß, des »Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe«, ich nenne hier nur Polen, die alte Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien usw. Aber am Allerwichtigsten: Dank Deng Xiaoping ist China mit einer Bevölkerungszahl von zwölfhundert Millionen heute ebenfalls an der Weltwirtschaft beteiligt, und Indien mit neunhundert Millionen Menschen ist ebenso auf dem Wege, ein Faktor der Weltwirtschaft zu werden.
In Deutschland ist der größte Teil der Software, mit denen wir unsere Computer füttern, in Indien hergestellt worden. Inzwischen gibt es längst High-Technology, die aus Japan kommt, und demnächst werden wir erleben, vielleicht in spätestens zwanzig Jahren, dass sogar langlebige hochkomplizierte Investitionsgüter wie Passagierjetflugzeuge aus China kommen werden und vorher schon Propellerflugzeuge aus Indonesien. Diese werden billiger sein als Propellerflugzeuge aus Eindhoven.
Dazu kommt die Explosion der Weltbevölkerung, insbesondere in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Am Anfang dieses Jahrhunderts waren wir 1 , 6 Milliarden Menschen, heute sind wir ungefähr sechs Milliarden Menschen, also eine Vervierfachung der Menschheit in nur einem einzigen Jahrhundert! Unvorstellbar! Wir rücken immer näher zusammen. Alles das kann man zusammenfassen unter dem Stichwort »Globalisierung«. Ein wichtiger Faktor der Globalisierung muss hier aber noch genannt werden: nämlich die im Grunde vernünftige, sehr weitreichende Liberalisierung des Verkehrs mit Waren und Dienstleistungen, des Kapitalverkehrs und des Geldverkehrs. Ich sagte, im Grunde vernünftig, führt sie doch zu einer stärkeren Arbeitsteilung weltweit. Aber die Globalisierung führt eben auch dazu, dass Nationen, die mit geringen Löhnen zufrieden sind und die zufrieden sind mit geringen Sozialleistungen, dass die auch zufrieden sein können mit der Erzielung geringerer Preise und Entgelte für ihre Güter und für ihre Leistungen. Aber wir hier, in Frankreich, in Deutschland, in Belgien, in Holland, in anderen Teilen Westeuropas, wir sind hohe Löhne und hohe Sozialleistungen gewohnt und merken plötzlich, dass wir nicht Schritt halten können mit all denen, die gleich gute Produkte herstellen – in Pilsen, in Prag, oder in Shenzhen, in Kanton oder in Seoul oder Taipeh, aber billiger als wir. Unsere Politiker stehen nun wie der Ochs vor dem geschlossenen Scheunentor und wissen nicht, wie man das Tor aufmacht.
Gleichzeitig mit der Globalisierung entwickelt sich eine neue Machtkonfiguration auf der Welt. Viele Amerikaner bilden sich ein, sie könnten zum Beispiel durch die Erweiterung ihres Instrumentes NATO , aber auch auf andere Weise, die USA als einzige Supermacht auch für das 21 . Jahrhundert etablieren. Ich glaube, dies bleibt ein Wunsch. Sie übersehen, dass inzwischen China zu einer Weltmacht aufsteigt, in zwanzig Jahren werden die chinesische Volkswirtschaft und die chinesischen Exporte (nicht nur die chinesischen Importe) genauso umfangreich sein wie diejenigen Japans; in dreißig Jahren werden sie genauso groß sein wie diejenigen der USA ; vielleicht zehn Jahre später genauso groß wie die Exporte und Importe der Europäischen Union. China nicht als Weltmacht anzusehen, ist ein schwerer Fehler, der zu schweren strategischen »blunders« im Laufe der kommenden Jahrzehnte führen kann. Ebenso ist es ein folgenreicher Fehler, nicht zu begreifen, dass Russland trotz seiner immensen internen Schwierigkeiten – die vielleicht 25 Jahren dauern werden, vielleicht aber auch fünfzig Jahre – gleichwohl eine Weltmacht ist und bleibt. Schon allein wegen seines riesigen Territoriums. Darin steckt viel Öl und Erdgas und viele, viele weitere Mineralien, die noch nicht exploriert, geschweige denn schon exportierbar sind. Außerdem hat Russland immer noch weit über 10 000 nukleare Waffen. Es wäre auch ein Fehler, sich einzubilden, dass Japan seine Qualität als finanzielle Weltmacht verlieren wird – auch wenn dieses Land heute in großen Schwierigkeiten steckt, über die sich andere hämisch der Schadenfreude hingeben.
In dieser globalisierten Wirtschaft und angesichts dieses demnächst entstehenden Kartells von Weltmächten können Länder wie Holland oder Belgien oder Italien oder Frankreich
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