Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
oder Deutschland oder die Tschechische Republik oder Polen ihre Interessen allein nicht wirksam verfolgen. Dies ist ganz ausgeschlossen. Auch wenn es viele Franzosen und noch mehr Engländer gibt, die ihr Land auch heute noch für eine Weltmacht halten.
Es wird aber notwendig sein, die eigenen Interessen nicht unter den Tisch kehren zu lassen, zum Beispiel nicht auf den Feldern, die möglicherweise in den kommenden Jahrzehnten eine ganz große Bedeutung erlangen werden, nämlich: die Reinhaltung unserer Atmosphäre und die Reinhaltung der Ozeane und des Wassers. Aber schon auf den viel näher liegenden Feldern – wie dem Währungsgefüge der Welt, der Kontrolle über die spekulativen Finanzmärkte der Welt, selbst auf dem herkömmlichen Konfliktfeld der Handelspolitik, auf dem Felde der Abrüstung, auf dem Gebiet der Verhinderung von Waffenhandel und Handel mit Panzern und mit Militärflugzeugen – werden die kleinen und mittleren Staaten Europas, zu denen wir gehören, nicht in der Lage sein, einzeln und jeder für sich gegenüber den Giganten ihre Interessen wirksam zu vertreten. Dies ist ein neues, zusätzliches strategisches Motiv für die Fortsetzung der europäischen Integration. Man kann eigentlich nur nachdrücklich die Weitsicht Jean Monnets bewundern, dessen Brief ich vorhin vorgelesen habe, in dem er von der Gleichberechtigung zwischen dem vereinigten Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika sprach. Heute würde er hinzufügen: Und China – und Russland.
Ich war nie ein europäischer Idealist. Das muss ich Ihnen bekennen. Ich war und bleibe ein Anhänger der europäischen Integration aus dem eigenen Interesse meines Volkes. Aus dem eigenen Interesse seines Volkes war auch Jean Monnet ein Anhänger der europäischen Integration. Nicht aus Schwärmerei – Monnet war ein Mann, der nüchtern kalkulieren konnte –, sondern aus den vitalen Interessen der Franzosen und der Deutschen heraus ist das Gebäude »Europäische Union« entstanden. Aus diesem vitalen Interesse heraus haben die Staatsmänner in allen Krisen letztlich doch immer wieder einen vernünftigen, nach vorne weisenden Ausweg gefunden. Das werden sie auch tun vor dem 1 . Januar 1999 , wenn es sich darum handelt, die gemeinsame europäische Währung, genannt Euro, ins Werk zu setzen. Dieser verzwickte und reichlich komplizierte, teilweise auch Überflüssiges enthaltende Maastrichter Vertrag gibt ihnen dafür ja auch das vernünftige Werkzeug an die Hand. Jeder, der mir im Augenblick noch nicht glaubt, möge heute Abend dann zu Hause den Vertrag selbst in die Hand nehmen und die Artikel 104 c und 109 lesen. Da steht nichts drin von »strikter Einhaltung« der Staatsdefizitquote von 3 , 0 Prozent. Da steht auch nichts drin von »strikter Einhaltung« einer Schuldenquote des Staates von sechzig Prozent. Sondern da steht, dass der Europäische Rat (das sind also die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat) zu berücksichtigen hat, ob ein Land, das sich an der gemeinsamen Währung beteiligen will, auf dem richtigen Weg ist oder nicht. Sehr vernünftig! Deswegen habe ich vorhin gesagt, Italien wird nach meiner Meinung wahrscheinlich von Anfang an dabei sein. Ich würde es jedenfalls dringend wünschen, weil Italien auf dem richtigen Weg ist.
Wenn ich vorhin sagte, ich war nie ein Idealist oder ein Schwärmer, dann will ich hier in diesem Zusammenhang betonen: Das, was wir unter der geistigen Ägide Jean Monnets angefangen haben, nämlich vor beinahe fünfzig Jahren mit dem Schuman-Plan, datiert von Mai 1950 , haben wir nie in der Absicht verfolgt, etwa unsere nationalen Identitäten zu verschmelzen oder aufzugeben, unsere nationalen Sprachen aufzugeben, unser nationales kulturelles Erbe aufzugeben. Alles das wollen wir – alle Mitgliedsstaaten der EU – uns erhalten! Dies ist nun allerdings ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Vorhaben. Ob Sie zurückgehen in die Jahrtausende des alten Ägypten oder in die Jahrtausende des Zweistromlandes zwischen Euphrat und Tigris, oder ob Sie nur etwas mehr als zweitausend Jahre zurückgehen, in die Zeiten Alexanders des Großen, oder zweitausend Jahre zurückgehen in die Zeiten des Römischen Reiches, oder ob Sie nur sechzig Jahre zurückgehen in die Zeiten Hitlers, oder weniger als sechzig Jahre in die Zeiten des Stalin’schen Imperialismus: Noch niemals in der ganzen Weltgeschichte haben sich Völker aus eigenem Entschluss und freiwillig zur Vereinigung aufgemacht, nicht unter dem
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