Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
gefährdet:
1 . Die bisherige deutsch-französische Kooperation erlahmt und droht damit die gemeinsame Kraft zur Konzeption, zur Initiative und zur Verwirklichung zu schädigen. Es wäre eine Illusion, auf England als Quasi-Ersatzpartner zu hoffen. Denn noch auf Jahrzehnte wird die atlantisch-insulare Grundstimmung der Engländer jede Regierung in London hemmen und die britische Allianz mit den USA für wesentlich wichtiger erscheinen lassen als die EU . Im Ergebnis könnte der Wunschtraum einiger Amerikaner Wirklichkeit werden, die sich eine Kontrolle der USA über Europa wünschen.
2 . Die Erweiterung der EU um die sechzig Millionen Menschen aus Polen, Tschechien und Ungarn ist gut, weil notwendig. Aber eine weit darüber hinausgehende, allzu schnelle Erweiterung der EU um beispielsweise Rumänien, Bulgarien und am Ende sogar die Türkei würde die Funktionsfähigkeit der gegenwärtigen Institutionen der EU und die ökonomische Leistungsfähigkeit der bisherigen Mitgliedsstaaten überfordern. Solange einige der beitrittswilligen Staaten die inneren Konflikte mit ihren großen nationalen Minderheiten nicht einwandfrei und dauerhaft gelöst haben, ist ihre Integration in die EU nicht ratsam. Vor allem aber würde die Entscheidungsfähigkeit der Gremien der EU schwer beeinträchtigt, sofern jeder Mitgliedsstaat auch zukünftig Anspruch auf ein Kommissionsmitglied (und die großen Staaten sogar zwei!) in Brüssel haben sollte, sofern die Zahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments nochmals erhöht werden und sofern es im Rat der EU beim Einstimmigkeitsprinzip bleiben sollte.
3 . Schon lange sind die Gremien und Verfahren der EU , ihre überbordende Bürokratie und der wuchernde Hang, eine Vielzahl auch solcher Dinge minutiös zu regeln, die besser den nationalen Regierungen und Parlamenten der Mitgliedsstaaten überlassen blieben, eine Quelle endloser Reibereien. Schlimmer noch: Sie sind eine Quelle der überflüssigen Gängelung wirtschaftlicher Prozesse und der Verärgerung der öffentlichen Meinung. Mit Recht wollen die Bürger erkennen können, wer was und warum entscheidet und wer verantwortlich ist.
Sowohl Zurückhaltung der Brüsseler Exekutive als auch Durchsichtigkeit aller Entscheidungsprozesse sind dringend geboten. Deshalb ist die jüngste, sehr vorsichtige Stärkung der Rechte des Straßburger Parlamentes noch nicht ausreichend; aber auch das Parlament selbst muss seine Kontrollfunktionen wirksamer wahrnehmen – auch medienwirksamer! Sowohl das Europäische Parlament als auch die im Europäischen Rat vereinigten Regierungschefs müssen verhindern, dass die de facto aus den Oberbürokraten der 15 Mitgliedsstaaten bestehenden rund zwanzig »Räte« (von denen in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam lediglich zwei eine rechtliche Grundlage haben, alle anderen beruhen auf Wichtigtuerei und Gewohnheit!) das Subsidiaritätsprinzip am laufenden Band missachten. Weder der Ladenverkaufspreis von Büchern oder der zulässige Lärm von Rasenmähern noch die Sitzflächen auf landwirtschaftlichen Traktoren, weder die Reinheit des Bieres noch der Krümmungsgrad von Salatgurken bedürfen einer europäischen Gleichschaltung. Auch sollte der Europäische Gerichtshof nicht gezwungen werden können, über die Mehrwertsteuer-Befreiung von Straßenmusikanten zu entscheiden!
In welchem Umfang die nationalen und Brüsseler Bürokratien gemeinsam Papiere und Paragraphen erzeugen, mag ein einziges Beispiel belegen: Der Bundestagsausschuss, der zur Agenda 2000 und zur Erweiterung der EU dem Plenum des Bundestages am 17 . März 1999 seinen Bericht vorgelegt hat, brauchte dazu nicht weniger als 1604 Druckseiten! – in der Masse bestehend aus Anlagen, welche in Brüssel fabriziert worden waren. Welch ein undurchdringlicher Wust!
Die Straffung der Institutionen und Verfahren der EU muss zeitlich Vorrang haben vor der Erweiterung um neue Mitgliedsstaaten. Nach der Erweiterung würden die Hürden für institutionelle Reformen noch höher sein als heute. Allerdings scheinen weder die meisten Regierungschefs noch die Kommission unter Jacques Santer diese Ermahnung ernst genommen zu haben.
Stattdessen hat der inzwischen für fast jedermann undurchschaubare Wirrwarr der Verträge von Rom 1957 , Maastricht 1992 und Amsterdam 1997 und der Wildwuchs der Institutionen den Ruf nach einer Verfassung laut werden lassen; auch Außenminister Fischer hat sich daran beteiligt. Der Wunsch ist verständlich, aber er kann nicht
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