Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
zum Ziel führen.
Wenn eine Verfassung nur die wesentlichen Inhalte der verschiedenen geltenden Verträge festschriebe, so würde sie keine der notwendigen Reformen der Institutionen und Verfahren der EU vorsehen; sie würde aber zukünftige Reformen erschweren, weil diese nur noch durch Verfassungsänderungen oder Ergänzungen zustande kommen könnten. Sollte andererseits eine Verfassung von vornherein die heute wünschenswert erscheinenden institutionellen Reformen festlegen, würde es viele Jahre und Jahrzehnte dauern, bis eine Einigung über den Text der Verfassung zustande käme. Dabei hätten jedenfalls eine »Europäische Verfassung« und etwaige Verfassungsänderungen eine stärkere Legitimationsbasis nötig als die geltenden Verträge, die lediglich von den nationalen Parlamenten ratifiziert sind.
In der Außen- und Sicherheitspolitik der Union herrscht ein totaler Kompetenzwirrwarr. In seiner Amsterdamer Fassung proklamiert der EU -Vertrag in Artikel zwei das Ziel einer »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik«; es folgen 17 weitere, zum Teil akrobatisch formulierte Artikel mit sehr kompliziert geregelten Verfahren. So sagt Artikel 18 , dass der Vorsitz des Rates in Angelegenheiten der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die EU vertritt; er ist auch für deren Durchführung verantwortlich – zugleich soll aber die Brüsseler Kommission an diesen Aufgaben »in vollem Umfang beteiligt sein«. Wie soll dies praktisch funktionieren? Immerhin wechselt der Vorsitz im Rat alle sechs Monate, die Kommission dagegen regelmäßig erst nach fünf Jahren! Um gleichwohl Kontinuität zu gewährleisten, ist dem Vorsitz des Rates ein »Hoher Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« beigegeben; dies ist die Rolle, die dem gegenwärtigen NATO -Generalsekretär Javier Solana zugedacht ist. Zugleich unterhält andererseits die Brüsseler Kommission diplomatische Vertretungen in allen wichtigen Hauptstädten der Welt, während der Rat oder sein Vorsitz oder der Hohe Vertreter nicht über einen derartigen Apparat verfügt. Nur die künftige Praxis könnte dieses Knäuel von Kompetenzen entwirren.
Einstweilen beruht die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im wesentlichen auf intergouvernementaler Abstimmung zwischen den nationalen Regierungen – so weit sie überhaupt funktioniert. Im Kosovo-Krieg hat stattdessen die NATO eine einigermaßen gemeinsame Politik verfolgt – bei klarer Präponderanz der USA . Sofern die Mitgliedsstaaten der EU (oder die EU selbst) wegen der serbischen Verbrechen im Kosovo hätten ohne Beteiligung der USA militärisch eingreifen wollen, so hätte man dafür zwar theoretisch im EU -Vertrag Verfahrensregelungen gehabt, einschließlich der Inanspruchnahme der WEU (Westeuropäischen Union). Tatsächlich ist aber die WEU , ein Sicherheitspakt seit 1954 , praktisch durch die NATO überlagert; die WEU ist bisher ohne Wirksamkeit, sie verfügt auch nicht über militärische Stäbe oder Truppen. Zwar erklärt der heutige EU -Vertrag die WEU zum »integralen Bestandteil« der EU und stellt eine »operative Kapazität« der WEU in Aussicht. Tatsächlich gibt es eine solche Kapazität gar nicht, und nur sieben der fünfzehn Mitgliedsstaaten der EU gehören zugleich der WEU an, gemeinsam mit vier weiteren EU -Mitgliedsstaaten gehören sie gleichzeitig der NATO an; die übrigen vier Mitgliedsstaaten der EU halten bisher an ihrer erklärten Neutralität fest.
Es wird Jahre brauchen, bis Europa tatsächlich zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik gelangen kann; mit Recht spricht deshalb Artikel 17 von einer »schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik« (ob eine solche jemals so weit gehen könnte, auch die mit Veto-Recht im UN -Sicherheitsrat bevorrechtigten Nuklearwaffen-Staaten Frankreich und England einzubinden, erscheint fraglich). Jedenfalls wäre eine Festschreibung des heutigen Zustandes in einer Verfassung unsinnig, denn er funktioniert höchstens mehr schlecht als recht. Wer heute die Erweiterung der EU um eine Vielzahl neuer Mitglieder betreibt, der liefe das Risiko, dass die schwerfälligen, in ihren Aufgaben gegeneinander unklar abgegrenzten Verfahren zwischen Parlament, Kommission, Rat (de facto heute rund zwanzig Räte!) und demnächst über zwei Dutzend nationalen Regierungen in absehbarer Zeit erstarren.
Das Parlament muss einen Teil jener legislativen Rechte erhalten, die heute die Räte und die Kommission ausüben. Die Zahl der
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