Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
an Kontrolle über Europa bewahren wollen, um die globalen geopolitischen Ziele – bisweilen auch die geopolitischen Illusionen – Amerikas umso leichter zur Geltung zu bringen.
Das historische Wissen einiger Politiker, die heute vollmundige Reden über die Zukunft Europas halten, scheint nicht weiter als bis in die Zeit Hitlers, Stalins und des Kalten Krieges zurückzureichen. Es fehlt ihnen an Verständnis für das 18 . und das 19 . Jahrhundert und vor allem für die Geschichte der Völker auf der Balkanhalbinsel.
Die Geschichte Europas während der letzten Jahrhunderte war die Geschichte der Entstehung konkurrierender, einander befehdender Nationalstaaten, die zumeist über eine eigene nationale Sprache und eine eigene nationale Geschichte verfügten. Keine dieser Nationen ist ohne weiteres bereit, ihr Erbe zu opfern und ihre Selbstbestimmung aufzugeben. Es sind also eine ganze Reihe von Schritten erforderlich, wenn man Menschen davon überzeugen will, dass es sinnvoll ist, einen Teil ihrer Souveränität im Interesse des eigenen künftigen Fortschritts aufzugeben.
Auf diese Weise, in einzelnen Schritten, führte der Schuman-Plan von 1950 zu dem erstaunlichen Erfolg der Europäischen Union von heute. Wenn die führenden Politiker der EU -Staaten heute glauben, die Zahl der Mitgliedsstaaten ließe sich durch summarische Beschlüsse von Ministerräten und ihren bürokratischen Mitarbeitern einfach verdoppeln, dann könnte es durchaus geschehen, dass sie ziemlich bald in eine tiefe Krise geraten – auch im Verhältnis zu den Wählern in ihren jeweiligen Ländern.
Die Franzosen waren es, die den Integrationsprozess in Gang gesetzt haben, und die Deutschen haben die Einbindung in die Union von Anfang an akzeptiert. Zumindest seit den siebziger Jahren haben die Franzosen eingesehen, dass die Integration Deutschlands auf Dauer nur erfolgreich sein kann, wenn sich die französische Nation auf die gleiche Weise einbindet. Diese beiderseitige Erkenntnis von Deutschen und Franzosen hat es ermöglicht, den Integrationsprozess voranzutreiben und im Laufe der Zeit eine Reihe von Krisen zu überwinden.
Die letzte Krise ergab sich im Zusammenhang mit dem Maastricht-Abkommen, aber der Euro (der schon vor zwanzig Jahren vorgeschlagen wurde und seither vorbereitet wird) wurde dennoch geschaffen. Und wieder: was für ein Erfolg! Wenn wir das Europäische Zentralbanksystem heute nicht hätten, wären einige ehemals nationale Zentralbanken und ihre Währungen möglicherweise in Krisensituationen geraten, in denen sie sich dem gemeinsamen Willen der Märkte und zugleich den Vorgaben des Internationalen Währungsfonds hätten fügen müssen. Der gemeinsame europäische Markt wäre dann bedrohlichen Spannungen ausgesetzt gewesen. (Was den Euro angeht, sind wir mit der »nachsichtigen Haltung« der Europäischen Zentralbank und dem Fehlen jeglicher Unterstützung durch die politischen Institutionen nicht einverstanden. Die Europäer, die die Vereinigten Staaten wegen ihrer »nachsichtigen Haltung« hinsichtlich des Dollars kritisiert haben, sollten sich heute nicht der gleichen Kritik aussetzen.)
Der Wille, ein erhebliches Maß an Selbstständigkeit gegenüber den Weltmächten zu bewahren, wird zu einem weiteren wichtigen strategischen Motiv der europäischen Einigung werden. Keiner der europäischen Nationalstaaten hat für sich genommen das Gewicht und die Macht, sich mit den großen Weltmächten zu messen, die im anbrechenden Jahrhundert gewiss versucht sein werden, die eigenen Probleme zu lösen, ohne die Interessen anderer dabei angemessen zu berücksichtigen.
Nur wenn wir gemeinsam daran arbeiten, die EU zu vollenden und aus ihr ein wirklich funktionsfähiges Ganzes zu machen, können die europäischen Nationen erwarten, Einfluss in der Welt zu behalten. Anderenfalls würde unsere Stimme nicht gehört werden, wenn wesentliche Entscheidungen anstehen – etwa in der Frage eines neuen internationalen Rechts oder der Rüstungsbegrenzung, im Hinblick darauf, wie man bei Kriegen in anderen Weltteilen reagieren soll, wie der Welthandel organisiert werden soll, wie mit den Auswirkungen der globalen Erwärmung umzugehen ist, wie sich die weltweite Bevölkerungsexplosion dämpfen lässt, wie man sich zu den Strömen von Flüchtlingen und Vertriebenen verhält und vor allem, wie die zur Zeit so chaotischen Finanzmärkte zu einem stabilen, funktionsfähigen weltumspannenden System geformt werden können.
Spätestens in der zweiten
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