Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
Hälfte des 21 . Jahrhunderts wird die gegenwärtige Vorrangstellung der Supermacht Amerika nach und nach verblassen. Es wird nicht mehr bloß eine Supermacht geben. Die Europäische Union ist von einer starken gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und damit auch vom Status einer Weltmacht immer noch weit entfernt. Es wird großer Anstrengungen bedürfen, die alten europäischen Nationen davon zu überzeugen, dass das künftige Gewicht unserer älter werdenden Gesellschaften und die Wahrung unserer Interessen von unserer Bereitschaft zu weiterer Integration abhängig sind.
Ob das Vereinigte Königreich schließlich zu der Entscheidung gelangt, sich der EU vollständig anzuschließen, bleibt abzuwarten. Solange England es vorzieht, seinen Platz auf dem Zaun – halb drinnen, halb draußen – nicht zu verlassen, wird der Fortschritt vor allem von der engen Zusammenarbeit zwischen Franzosen und Deutschen abhängen und davon, dass sie die Führungsrolle übernehmen. Sie werden daran interessiert sein, das globale Sicherheitsbündnis mit den Amerikanern aufrechtzuerhalten, aber gleichzeitig auch bestrebt sein, ihre Selbstbestimmung zu wahren.
Gegenwärtig kommt dem EU -Beitritt der Polen, Tschechen und Ungarn hohe Priorität zu. Aber die allerhöchste Priorität muss man der institutionellen Reform einräumen.
Dem Beitritt der Türkei und damit einer Ausdehnung der künftigen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bis an die Grenzen Syriens, des Irak und Irans und bis in die Kaukasus-Region kommt dagegen, um es vorsichtig auszudrücken, überhaupt keine Priorität zu.
In manchen Fällen wäre die ökonomische Assoziation eine angemessenere Lösung. Es wäre unklug, einige in sich noch wenig gefestigte europäische Staaten auf den internationalen Märkten umstandslos der Konkurrenz mit den hoch entwickelten europäischen Unternehmen auszusetzen. Das Schicksal der ostdeutschen Industrie nach dem Fall der Mauer liefert kein nachahmenswertes Beispiel. Es wäre auch unklug, Millionen von Arbeitern zur Migration nach Westeuropa einzuladen, wo sie versucht sein könnten, auf Dauer zu bleiben, weil sie hier fünf- oder zehnmal so hohe Löhne beziehen können wie daheim.
Europas führende Politiker sollten diese gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme berücksichtigen, ehe sie ohne weitere Vorbereitung vorwärts preschen. Der Prozess der Erweiterung der EU zu einem Gebilde, das schließlich 27 Länder mit etwa 530 Millionen Einwohnern umfasst, unterscheidet sich grundlegend von dem Prozess, aus dem die EU entstanden ist, und kann uns nicht zu einem einheitlichen integrierten System führen.
Mehrere Optionen sind vorgeschlagen worden: ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ein in konzentrische Kreise gegliedertes Europa, ein Europa zweier Ebenen. Nun, da der Erweiterungsprozess in Gang gesetzt wurde, ist klar, dass sich Europa innerhalb eines für die Menschen überschaubaren Zeitraums, also etwa in den nächsten zwanzig bis fünfzig Jahren, auf drei verschiedenen Ebenen entwickeln wird:
1 . Die Strukturierung des europäischen Raumes nach Maßgabe der Erweiterung.
Diese Strukturierung wird ökonomische Probleme und solche des freien Handels betreffen und von einem gewissen Maß an politischer Integration flankiert werden. Die Priorität liegt bei der institutionellen Reform, um Funktionsfähigkeit zu erlangen – anderenfalls wird das System zusammenbrechen, wie es im vergangenen Jahr der EU -Kommission widerfuhr.
Die schlechteste Lösung bestünde darin, die Unfähigkeit zur Reform unter einer Wolke von falschen Kompromissen zu verstecken.
In diesem europäischen Raum werden alle Nationen, auch Deutschland und Frankreich, das, was sie als in ihrem Interesse liegend begreifen, mit der gebotenen Solidarität akzeptieren. Nationale Entscheidungsvollmacht werden sie in solchen Angelegenheiten behalten, die keine gemeinsamen Lösungen oder Regelungen erfordern. Das Subsidiaritätsprinzip muss endlich durchsetzbar gemacht werden.
2 . Die zweite Entwicklungsebene wird die Organisation einer gemeinsamen europäischen Verteidigung sein.
Dieser Prozess wird zurzeit mit aktiver Beteiligung Großbritanniens tatkräftig vorangetrieben. Erfolgreich kann dies nur geschehen, wenn er von den Ländern ausgeht, die über ein bedeutendes Militärpotential verfügen, und er setzt in der Öffentlichkeit die Bereitschaft voraus, einen Mechanismus zu akzeptieren, der schnelle und effiziente Entscheidungen
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