Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
ermöglicht.
3 . Auf der dritten Ebene wird es um das gehen, was von dem anfänglichen Bemühen um Integration übrig geblieben ist.
Es liegt auf der Hand, dass eine vollständige Integration für dreißig Länder mit höchst unterschiedlichen politischen Traditionen, Kulturen und ökonomischen Werdegängen kein realistisches Ziel ist. Der Versuch, so viele Länder zu vereinigen, kann nur scheitern. Es versteht sich, dass eine solche Integration keinem Land aufgenötigt werden kann, das sich ihr widersetzt.
Die einzige realistische Option besteht also darin, dass die Integration von jenen Ländern vorangetrieben wird, die den politischen Willen dazu haben und deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Voraussetzungen nahezu gleich sind. Im Augenblick gehören alle diese Länder zum Euro-Gebiet, dessen Bevölkerung schon jetzt größer ist als die der Vereinigten Staaten.
Werden einige dieser Länder einen neuen Weg einschlagen und sich die Integration einiger ihrer politischen Kompetenzen auf einer förderativen Basis zum Ziel setzen?
Ein solcher Ansatz erfordert sicherlich eine Initiative, die von den Gründerländern Frankreich, Deutschland, Italien und den Benelux-Staaten sowie einigen anderen gutwilligen und entschlossenen Kandidaten ausgeht. Damit dieser Prozess wirksam werden kann, sind zusätzliche Institutionen nötig: ein Rat, eine parlamentarische Struktur, die tragfähige Verbindungen zu den nationalen Parlamenten unterhält, aber wahrscheinlich keine Kommission.
Die einzige Einschränkung, auf der die nicht teilnehmenden Länder beharren könnten, bestünde darin, dass diese neue Gruppe, die wir versuchsweise »Euro-Europäer« nennen könnten, alle Verpflichtungen respektiert, die sich aus der umfassenderen Europäischen Union ergeben, und dass die neuen Institutionen nicht mit den Vollmachten der bestehenden europäischen Institutionen in Konflikt geraten dürfen.
Auch wenn der Vergleich seine Grenzen hat: Diese neue Gruppierung wird auf dem europäischen Kontinent ein politisches Gebilde darstellen, ähnlich wie die USA ein eigenständiges politisches Gebilde auf dem nordamerikanischen Kontinent darstellen.
Unsere politischen Führer irren, wenn sie glauben, mit einer raschen EU -Erweiterung ließen sich die bei den Konferenzen von Maastricht und Amsterdam offen gebliebenen Probleme überdecken.
Sie irren auch, wenn sie diese offenen Fragen einer neuen Konferenz zwischen den verschiedenen Regierungen überlassen, ohne vorher gemeinsam klare politische Richtlinien für ihre Diplomaten festzulegen.
Europa bedarf der Führungskraft von Leuten, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind, die das Vertrauen ihrer Wähler besitzen und die bereit sind, klar und deutlich ihr Ziel und ihre Entschlossenheit zu formulieren: noch einmal Geschichte zu gestalten.
Deutsch-französische Gemeinsamkeiten ( 2004 )
Im Januar 2004 nahmen Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing an einem Symposium der Foundation of Political Science in Paris teil. Thema der Tagung mit etwa 250 Gästen im Palais du Luxembourg waren die deutsch-französischen Beziehungen der siebziger und achtziger Jahre. Der Historiker Georges-Henri Soutou und der diplomatische Berater im Präsidentenamt Gabriel Robin hatten Schmidt im Vorfeld einige Fragen unterbreitet.
I ch freue mich über Ihre Einladung und danke Ihnen dafür, dass Sie glauben, ein Mann von 85 Jahren könne noch etwas beitragen. Ich freue mich besonders darüber, wieder einmal neben meinem Freunde Giscard d’Estaing zu sitzen.
Ich werde zunächst auf die von den Herren Soutou und Robin aufgeworfenen Fragen meine Antworten geben. Sodann aber will ich über die zeitliche Begrenzung auf die siebziger und achtziger Jahre hinausgehen und einige Bemerkungen vortragen über die Lage heute und in Zukunft – und über das langfristige Interesse Frankreichs und Deutschlands. Denn die Europäische Union, so wie sie Giscard und mir als Ziel vor Augen gestanden hat, findet sich seit Maastricht, seit 1992 in einer Phase des Stillstandes – und seit dem Jahre 2003 sogar in einer Krise ihrer Handlungsfähigkeit. Ein Verfall der Union ist leider nicht mehr undenkbar.
Giscard hat recht: Papiere und Akten sind das eine, die tatsächlichen Motive der handelnden Personen sind oft nicht enthalten.
1 . Herr Soutou hat gefragt, ob der Präsident Giscard d’Estaing und der Kanzler Schmidt das Problem der Wiedervereinigung besprochen haben. Nach meiner Erinnerung haben wir einerseits
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