Mein fremder Bruder
Vorschuß vom deutschen Mieter hieß, daß ein halbes Jahr lang keine Einnahmen mehr vom großen Haus kommen würden. Mayas Ersparnisse waren auch aufgebraucht. Sie beschloß, auf Dr. Sattars Angebot einer Stelle an der Uniklinik einzugehen. Er bat sie zu einem Vorstellungsgespräch. Die Kommission war beeindruckt von ihren guten Noten und der ausgezeichneten Abschlußprüfung, aber ihre Jahre auf dem Land verwirrten sie. Warum hatte sie die Chirurgie an den Nagel gehängt? Maya antwortete, so gut sie konnte, und stellte die Jahre als Landärztin wesentlich zielgerichteter dar, als sie es tatsächlich gewesen waren. Sie schaffte es, die Kommission zu überzeugen. Sie mußte zwar als Assistenzärztin anfangen, unter den anderen Ärzten ihres Jahrgangs, aber für den Anfang war es nicht schlecht. Als sie auf dem Weg nach draußen durch das Krankenhaus ging, war ihr leicht ums Herz. Hier würde es ein System geben, Krankenakten und Register und Verschreibungen. Studenten, denen man Befehle erteilen konnte. Sie wäre nicht allein dafür verantwortlich, wenn jemand starb, sie würde nicht mehr den Mann und die drei Kinder der Patientin kennen und wissen, was sie hatten verkaufen müssen, um sich den Krankenhausaufenthalt leisten zu können. Ihre Welt verkleinerte und vergrößerte sich: voller Vorfreude dachte sie an Kollegen, Krankenhauspolitik und Getratsche auf den Korridoren.
Daran dachte sie, als sie an diesem Tag nach Hause zurückkehrte. Als sie Joys Wagen in der Einfahrt stehen sah, machte ihr Magen einen kleinen Satz.
Im Wohnzimmer duftete es nach Parfüm. Eine kleine Frau mittleren Alters saß auf dem Sofa und trank Tee aus den gutenTassen. Neben ihr saß Joy und häufte sich Plätzchen und Shondesh auf den Teller. Ammu saß ihnen lächelnd gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet.
Maya hatte das Gefühl, irgendwie zu stören, weswegen sie beim Hereinkommen an den Türrahmen klopfte.
»Oh!« sagte ihre Mutter. »Komm doch rein, Beta. Setz dich. Das ist Mrs. Bashir.«
Maya vermied es, in Joys Richtung zu sehen, sondern konzentrierte sich auf die Frau, die aufgestanden war und sie sehr fest umarmte. »Mein liebes Kind«, sagte sie, »ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ihren Bruder kenne ich natürlich, aber wir haben uns scheinbar noch nie gesehen. Lassen Sie sich mal anschauen. Wie hübsch Sie sind, was für große Augen! Nicht so helle Haut wie Ihr Bruder, aber auf so etwas legen wir in unserer Familie keinen Wert.«
»Guten Tag«, sagte Maya und wich so weit vor ihr zurück, wie es nur ging.
»Berühr ihre Füße«, flüsterte ihre Mutter.
»Aber nein, solche Förmlichkeiten sind doch nicht notwendig«, entgegnete Mrs. Bashir und ließ Maya los. »Setzen Sie sich neben mich, Sie müssen ja müde sein. Joy hat mir gesagt, daß Sie Ärztin sind. Viel beschäftigt und sehr unabhängig«, sagte sie und wedelte mit den Armen.
Joy schlug die Beine übereinander, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Maya versuchte, einen Blick mit ihm zu wechseln, aber er hatte den Kopf abgewandt. »Maya«, sagte Ammu mit einer Stimme wie warmer Milch, »warum erzählst du Mrs. Bashir nicht, was du heute gemacht hast? Trinken Sie noch eine Tasse Tee, Mrs. Bashir?«
»Ich muß mir die Hände waschen gehen«, sagte Maya. »Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Sie wollen sich ja keine Tuberkulose holen.«
Mrs. Bashir blinzelte überrascht und lächelte. »Ich bitte Sie, Beta, nur zu.«
Am Waschbecken bemerkte Maya, wie sie aussah. Ihre Augen waren klein und müde, und aus ihrem Zopf hingen die Strähnen heraus. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und flocht ihr Haar neu.
Joy wartete vor dem Badezimmer auf sie. »Tuberkulose?«
»Na ja, es gibt eine Epidemie. Da wollte ich deine Mutter nur warnen.«
Im Wohnzimmer war Tee nachgeschenkt worden. Maya setzte sich so weit wie möglich von Mrs. Bashir weg und starrte an die Decke. Mrs. Bashir sah sich erwartungsvoll im Zimmer um. Ihr Blick fiel auf den Korb neben Mayas Stuhl.
»Stricken Sie, Maya?«
»Nein, nein, ich nicht.« Hatte Joy seiner Mutter denn gar nichts erzählt? »Ammu strickt.«
»Ach, ich habe gerade erst angefangen«, sagte Rehana. »Damit ich was zu tun habe. Ich habe mir gedacht, ich fange am besten mit einem Schal an.«
Mrs. Bashirs Stimme zitterte, als sie sagte: »Früher habe ich auch gestrickt. Für meinen Mann.«
Damit hatten die Damen ihr gemeinsames Thema gefunden. »Maya, warum setzt du dich nicht mit Joy in den Garten? Dann können
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