Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
gezielten Anfeindungen. Zu ihrer chronischen Quasselsucht kam jetzt noch ihr Hass auf mich, und diese Kombination war tödlich. Solange Höherrangige in der Nähe waren, gab sie sich übertrieben freundlich und höflich. Doch sobald sie fort waren, betrachtete sie mich voller Abscheu. Durch ihre anbiedernde Art und die Anschwärzungen anderer wuchs ihre Beliebtheit bei den Oberen immer stärker. Im Gegensatz dazu erhielt ich die Anweisung, nicht den üblichen Hin- und Rückweg zum WB zu nehmen, damit ich nicht versehentlich Onkel Dave oder Tante Shelly begegnen und sie stören würde.
Wochenlang musste ich all die negativen Bezeichnungen ertragen, mit denen Julia, mein CO und Mr. Anne Rathbun mich bedachten. Letztere griff mich nach jeder Sitzung persönlich an, nannte mich out ethics, einen Verbrecher und schließlich eine SP . Die dauernden Vorhaltungen, wie böse und schlecht ich doch sei, nötigten mich dazu, meine eigenen Empfindungen, Absichten und innersten Überzeugungen zu hinterfragen. Daraufhin vollzog sich bei mir ein geistiger Wandel. Ich begriff, dass all diese Leute, die mich als böse bezeichneten, ein einziger Haufen von Heuchlern waren, nichts weiter. Sie behaupteten, aus Sorge um andere Menschen zu handeln, obwohl in Wahrheit ihre Selbstsucht leicht auszumachen war. Man musste nur danach suchen und seinem Urteil vertrauen. Ich wusste, ich hatte Fehler gemacht, aber ich wusste auch, dass meine Vergehen keineswegs so schlimm waren, wie meine Umgebung mir einreden wollte.
Plötzlich hatte ich keine Angst mehr, die Dinge beim Namen zu nennen und meinem Urteil über andere, aber auch über mich selbst Vertrauen zu schenken. Bis dahin hatte ich meine Gefühle stets mit dem verglichen, was ich laut Scientology eigentlich empfinden sollte. Fühlte ich etwas anderes, dann lag das sicherlich an mir. Folgerichtig zweifelte ich ständig an mir selbst. Ich zweifelte daran, ein guter Mensch zu sein. Ich zweifelte daran, dass meine Freunde gute Menschen waren. Ich zweifelte daran, die richtigen Empfindungen zu haben – und das alles nur, weil Scientology mir das Gefühl gab, dass ich das Problem sei.
Zum ersten Mal konnte ich mich nun als das sehen, was ich war: ein Mensch, der Fehler machte und sich bessern wollte. Ich mochte nicht die besten Entscheidungen getroffen haben, aber deshalb war ich noch lange nicht schlecht oder gar böse. »Böse« – damit hatten sie den Bogen überspannt. In der ein oder anderen Frage hatte ich vielleicht schon geschwankt, aber ich war fest davon überzeugt, nicht böse zu sein. Das Leben anderer Menschen bedeutete mir viel, dessen war ich mir sicherer als irgendetwas sonst. Meine Freunde bedeuteten mir extrem viel, und ich hätte ihr Wohl jederzeit über mein eigenes gestellt. Ich konnte also keine SP sein, denn SP s dachten anders. Ich hegte nicht den geringsten Zweifel daran, ein guter Mensch zu sein, und es war mir völlig egal, was andere darüber dachten oder sagten, mochten sie auch noch so bedeutend sein.
Mit dieser Erkenntnis begann ich mit einem Mal auf mich selbst zu hören. Statt meine Gefühle und Wahrnehmungen abzutun, folgte ich ihnen nun, selbst wenn sie mich zu einer Ansicht führten, die Scientology für falsch hielt.
Es war erstaunlich. Wenn mich jetzt jemand anschrie, sagte ich lediglich »Yes, Sir«, und dies derart gelangweilt, unglaubwürdig und sinnentleert, dass es die Leute mit der Zeit richtig auf die Palme brachte. Ich ließ sie einfach nicht an mich herankommen. Ich lächelte sogar ein wenig, da ich ihnen sowieso nicht zuhörte und sie sich dann so schön aufregten. Bei Dienstgruppentreffen wurde ich aufgefordert, vor versammelter Mannschaft meinen Flap zu schildern. Dabei handelte es sich um irgendeinen Schnitzer, der in meinen Sitzungen zur Sprache gekommen war. Womöglich hatte ich einer Freundin zugelächelt, was mangelnder Konzentration auf meine Studien gleichkam. Oder ich hatte mich kurz mit Mayra unterhalten, statt wie ein Sklave zu schuften. Jeder kleine Fehler musste in meinen Sitzungen behandelt werden.
»Jenna, hast du einen Flap zu berichten?«, forderte mich der CO dann vor allen anderen auf.
»Nein, außer dem, über den jeder hier Bescheid weiß und von dem ich letzte Woche bereits berichtet habe«, erwiderte ich.
Das würde mir unweigerlich neue Vorwürfe einbringen. »Oh, wirklich sehr clever, Jenna! Musst du wieder vor allen den Klugscheißer gegenüber deinem CO abgeben! Ändere gefälligst deine Einstellung, oder du
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