Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
Warum hatte mir das niemand gesagt? Später am Nachmittag kam Mr. Wilson in mein Büro und schloss die Tür hinter sich, weil er gehört hatte, dass ich mich nach Justin erkundigt hatte.
»Du hast also das mit deinem Bruder erfahren?«, fragte er. »Nun gut, er ist in der RPF , und viel mehr darf ich nicht sagen.«
Mir kamen die Tränen. Ich fand es schwer zu ertragen, dass jetzt zwei Mitglieder meiner Familie in der RPF waren. In den Augen der Kirche wurden wir wahrscheinlich immer mehr zu einer Verbrecherfamilie, aber ich konnte nur daran denken, dass unsere Familie auseinanderbrach.
»Warum weinst du?«, fragte Mr. Wilson. Ich versuchte einen Grund zu finden, der nicht rein emotional war, aber mir fiel keine logische, entschuldbare Rechtfertigung für meine Gefühle ein. »Das ist die Sea Org, und so läuft das hier eben«, bemerkte Mr. Wilson ungerührt. »Ich selbst habe meine Schwester schon Jahre nicht mehr gesehen. Sie war Trainee beim RTC . Aber ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt ist. Das ist kein Grund zu weinen. Ich habe auch meine Frau schon seit Jahren nicht mehr gesehen und weiß nicht, wie es ihr geht.«
»Ja, Sir«, sagte ich und versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen. Am nächsten Tag bekam ich einen Brief von Tante Shelly, in dem sie mir erklärte, dass Justin zur RPF auf der Flag geschickt worden war. Sie entschuldigte sich im Voraus, dass mich dieser Brief vielleicht zu spät erreichen würde. Es schien ihr leidzutun, mir sagen zu müssen, dass Justin vermutlich ein Out 2D mit meiner Freundin Eva gehabt hatte. Außerdem hatte er die Int Base ohne Erlaubnis verlassen. Tante Shelly bat mich, ihm gegenüber nachsichtig zu sein, da er bereits genug durchgemacht habe.
Sobald ich wusste, dass Justin in der RPF auf der Flag war, lief er mir immer wieder über den Weg. Manchmal konnte ich ihn umarmen und kurz mit ihm reden. Manchmal schickte er mir eine Liste mit Dingen, die er brauchte, wie zum Beispiel Shampoo, und ich bemühte mich nach Kräften, ihm alles zu besorgen. Er bekam nur fünfzehn Dollar die Woche, daher konnte er sich sein Lieblingsshampoo kaum leisten. Also glich ich die Differenz mit meinen fünfundzwanzig Dollar die Woche aus. Aber auch bei mir war das Geld knapp. Nach fünf Uhr nachmittags gab es keine Mahlzeiten mehr, und wenn ich um halb elf nach Hause kam, stand ich kurz vor dem Verhungern, also kaufte ich mir in der Kantine immer Cornflakes, was sich summierte.
Mir war zu Ohren gekommen, dass mein Bruder in der RPF einen Reinigungs-Rundown vollziehen musste. Dahinter stand die Idee, dass man durch intensive Saunagänge Restgifte von Umwelttoxinen, Medikamenten und Drogen ausschwitzen konnte. Normalerweise nahm man zuerst eine Reihe Vitamine und Mineralien zu sich, rannte dann eine halbe Stunde und setzte sich anschließend für fünf Stunden, mit Unterbrechungen, in die Sauna. Das Ziel war, die erste Stufe auf LRH s Brücke zur vollkommenen Freiheit zu erreichen.
Angeblich war Justin frühmorgens im für den Reinigungs-Rundown vorgeschriebenen Bereich gesehen worden. Um ihn öfter sprechen zu können, wollte ich jetzt auch den Reinigungs-Rundown absolvieren, obwohl ich ihn bereits mit neun auf der Int Base hinter mich gebracht hatte. Damals mussten wir mehrere Tausend Milligramm Niacin nehmen, eine extrem hohe Dosis, die bei der Lösung der Toxine helfen sollte. Danach kamen die Vitamine und Mineralien, die die ausgeschwitzten wieder ersetzen sollten. Mit neun hatte ich natürlich keine Lust, so viele Pillen zu schlucken, daher versteckte ich sie einfach in meiner Tasche. Dann mussten wir eine Vierteltasse pflanzliches Öl trinken, hochwertiges Fett, das dabei helfen sollte, das schlechte Fett, in dem normalerweise auch die Gifte steckten, auszuschwemmen. Das war wirklich widerlich, und ich brachte es einfach nicht herunter. Am Ende gab es noch einen Cal-Mag-Drink, aber den war ich gewohnt.
Vor dem ersten Saunagang mussten wir eine halbe Stunde rennen, damit das Niacin in unseren Blutkreislauf gelangte. Da mir das viel zu anstrengend war, ging ich die meiste Zeit. Trotzdem bekam ich einen Niacinflush, der sich als roter, unangenehm juckender Ausschlag zeigte. Danach saß ich stundenlang in der Sauna. Mit mir saßen meist ältere Männer dort, denen der Schweiß nur so herunterlief, aber weil ich noch so jung war, schwitzte ich kaum. Sobald ich länger als ein paar Minuten die Sauna verließ, drängte mich ein Mitarbeiter vom Reinigungsteam wieder hinein und schimpfte,
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