Mein Glueck
sadistischer Fetischist wütete damals in der Stadt. Einmal hatte sich dieser in einer Kirche niedergelassen und einem Beichtkind mit einer Gabel in den Busen gestochen. Doch das war allenfalls ein Vorspiel im Hinblick auf die Taten des Josef Weinwurm, des künftigen Opernmörders, der nach einer Vorstellung eine junge Elevin aus dem Corps de Ballet mit vierunddreißig Messerstichen getötet hatte. Mein kleines Kämmerchen ging nach nirgendwo. Ich durfte als gerngesehener Untermieter das Bad und die Küche benützen. Herr und Frau Nußbaum waren fabelhaft informiert über das musikalische Leben und über das, was sich im Theater abspielte. Hier kannten sie, und das war so richtig wienerisch, alle Geschichten und Eifersüchteleien. Ihnen verdanke ich zu Beginn meines Aufenthalts wichtige Tipps. Frau Nußbaum bekam alles mit, war neugierig und tolerant. Sie meinte, wenn ich die Nette, die an der Strudlhofstiege wohne, mitbringen wolle, habe sie überhaupt nichts dagegen. Sie fand sogar, das Mädchen warte richtiggehend auf eine derartige Einladung. Jene hatte jedoch leider Gottes einen weit nach vorne stoßenden, tiefenperspektivischen Rachen, und ich nahm mich vor der Wolfsfrau, die beim Küssen meine Zunge auszusaugen schien, in Acht.
Der Hut als Pfand
An der Universität, zu der ich zu Fuß gehen konnte, belegte ich die Fächer Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik. Ich besuchte Vorlesungen zur Kunst der Hochrenaissance, zu Problemen der angewandten Ästhetik, zur Entstehung des europäischen Barocktheaters und zur Geschichte der byzantinischen Kunst. Ich erinnere mich genau an den Vormittag eines düsteren Herbsttags vor dem Unteren Belvedere am Eingang zur Österreichischen Galerie, wo ich an einem Seminar über die Malerei der Spätgotik teilnehmen wollte. Hier lernte ich Artur Rosenauer kennen, dessen Freundschaft mich von Anfang an in jeder Hinsicht animierte. Er sollte später den angesehenen Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität in Wien einnehmen. Bis heute sind wir in offener, reger Verbindung geblieben. Zusammen besuchten wir danach das Proseminar von Karl Maria Swoboda. Dieser, ein Schüler von Julius von Schlosser und Max Dvořák, ging, so schien es mir, überaus simpel und effektvoll vor. Seine Schule des Sehens bestand darin, dass wir in Vorlesungen und Seminaren nie nur eine einzelne Diaprojektion betrachten durften. Es war immer ein Sehen im Vergleich, das zum Ziel hatte, uns von den ikonographischen Unterschieden wegzuführen und zur Beschreibung von Proportion und Bewegungsstereotypen zu erziehen. Im Vordergrund stand dabei Swobodas Vorliebe für Konstanten, nicht zuletzt für nationale. Kunstgeschichte als Geistesgeschichte interessierte ihn weniger. Das vergleichende Vorgehen sollte uns zu einer bloßen, wertfreien Anatomie dessen führen, was wir sahen. Die Projektionen waren alle schwarz-weiß. Ein einziges Mal, und das war sicherlich der emotionale Höhepunkt der ganzen Vorlesungszeit, hatten wir das Recht auf eine farbige Abbildung. Diese zeigte er einzeln, ohne Vergleichsabbildung. Es war Tizians »Assunta« aus der Frari-Kirche in Venedig. Für Swoboda war dies das schönste Bild der ganzen Kunstgeschichte. Er begründete seinen Enthusiasmus mit dem ihm eigenen Kontrast der Farben Rot und Blau und mit dem unvergleichlichen Equilibrium von Fülle und Leere. Die Worte irdisch und himmlisch gehörten nicht zu seinem Wortschatz. Swobodas Plädoyers für den Stil besaßen etwas Endgültiges, dem niemand widersprechen konnte. Irgendwie erinnert mich diese Gewissheit, über einen unfehlbaren und unveränderlichen Kanon zu verfügen – und diesen als Urmeter für alles Weitere heranzuziehen –, an die unwiderstehliche und peremptorische Eloquenz von Marcel Reich-Ranicki.
Gerne treffe ich Artur Rosenauer heute bei jedem Wienbesuch, in den Museen, in der Oper oder in Pötzleinsdorf, einem Vorort Wiens. Er lebt an einem Gedächtnisort, denn in seinem Haus in der Khevenhüllerstraße, der Villa Mauthner, verbrachte früher Sigmund Freud die Sommermonate. Mein Freund gehörte zweifellos zu den kenntnisreichsten und neugierigsten Studienkollegen, die ich im Laufe der Jahre kennenlernen durfte. Ihm verdanke ich unvergessliche Exkursionen in die Wachau, nach Kloster Melk, Krems, ins Waldviertel, zum Zisterzienserstift Zwettl, in seine Heimat Sitzendorf bei Hollabrunn, nach Hardegg mit dem Schloss über der Thaya und der unpassierbaren Grenze zur Tschechoslowakei. Wir waren
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