Mein Glueck
auch beängstigend. Ich erinnere mich, dass ich damals den Kollegen, die ich bei der Stuttgarter Zeitung kennengelernt hatte, etwas von dieser drangvollen Fülle in meinem Kopf mitteilen wollte. Nichts konnte dies für mich besser zum Ausdruck bringen als die Schilderung meiner Angst, nicht mehrfach zu existieren und mich selbst nicht in meinen ersehnten Doppelgängern erleben und beschreiben zu können. Auf meine Briefe handelte ich mir Reaktionen ein, die für das, was mich verwirrte, keinerlei Verständnis enthielten.
Die Wiener Zeit wurde in den Wintersemesterferien von einer Reise unterbrochen, die mich zusammen mit Wallo über Italien vier Wochen lang nach Ägypten führte. Es kam zu einer kurzen nächtlichen Entdeckung Venedigs, die uns kaum über das Bahnhofsquartier hinausführte. Doch auf der Weiterfahrt nach Neapel reichte es noch für einem kurzen Aufenthalt in Rom. Auf dem Schiff »Samsun«, einem billigen türkischen Kohlefrachter, der den Namen der Hafenstadt am Schwarzen Meer trug, ging es auf der Fahrt nach Alexandria nachts am rotsprühenden Stromboli vorbei. Es war im Februar, und zumeist herrschte stürmisches Wetter während der dreitägigen Seereise. Wir hatten uns nur die billigste Passage ohne Mahlzeiten leisten können. Unser Proviant, eine riesige Käsekugel, die Wallo in Neapel auf dem Markt erstanden hatte, entpuppte sich, als wir sie anschnitten, als ein Beutel reinen weißen Schweinefetts, dessen Anblick uns vollends den Magen umdrehte. Ein Türke aus der Besatzung, mit einem Mund voll blitzender Goldzähne, steckte uns ab und zu etwas Schiffszwieback zu. Wir waren fast die einzigen Passagiere auf dem Frachtschiff. Durch die Fenster sahen wir von der Reling aus einen deutschen Geschäftsreisenden, der im Restaurant einsam am Tisch des Kapitäns speiste. Es war ein Deutscher, und zwar einer à la George Grosz. Der scheinbar bis zum Platzen gespannte Kopf war von einem mit mathematischer Pedanterie errechneten, straff gezogenen Mittelscheitel gekrönt. Dieser klar geteilte Schädel charakterisierte nicht nur den behüteten und zufriedenen Gast. Er wirkte wie eine anspielungsreiche Hommage an die gleichermaßen symmetrische Anatomie des feisten Gesäßes und das Verdauungsglück des vermögenden Passagiers. Ins Gespräch mit ihm kamen wir so gut wie nie. Das einzige, was er uns vielleicht hätte abfordern können, war ein Zahnstocher, der seine ständig im Mund herumfahrenden Finger zu ersetzen vermocht hätte. Wir verbrachten die Fahrt Gott sei Dank mit einer Damenkapelle à la »Some like it hot«. Jede Musikerin und Tänzerin hatte verschieden gefärbte Haare. Zusammen ergab dies ein schillerndes Kaleidoskop, eine Evokation der verführerischen Blumenmädchen aus dem zweiten Akt des »Parsifal«. Abends, soweit es die Seekrankheit zuließ, tanzte man und blieb bis tief in die Nacht an Deck. Was gab es Verführerischeres, als wenn sie zusammen »Bei mir bist Du schejn« in die Sternennacht jubelten? Bei der Einfahrt in den Hafen von Alexandria stürzte eine Gruppe auf uns los, um die Koffer zu tragen. Doch da griff eine kleine energische Klosterschwester mit einer mächtigen weißen Flügelhaube, die uns bereits erwartete, ein und entriss ihnen das Gepäck. Wir kamen im Kloster der Borromäerinnen in der Rue Salah-el-Dine unter. Ihm stand die Schwester meines Vaters, die strenge Oberin Edeltrudis, vor. Sie leitete die deutschen Mädchenschulen in Ägypten. Zunächst hatte sie uns in mehreren Briefen von dieser Reise abzubringen versucht. Wir seien doch zu jung und müssten uns längere Zeit auf so einen bedeutenden Besuch vorbereiten. Doch wir gaben nicht nach. Wir wurden dann von den Mädchen in ihren Familien herumgereicht, reisten nach Suez, auf die Oase Al Fayum, diskutierten mit den Schülerinnen, die alle der höheren Gesellschaft Alexandriens entstammten, besuchten landwirtschaftliche Betriebe, Spinnereien, in denen die berühmten langfaserigen Baumwollstoffe hergestellt wurden. In Kairo plazierte man uns bei einem Treffen Nassers mit Tito in einem riesigen Saal als Gäste aus Europa in einer der vorderen Reihen. Ein Franziskanerpater, der uns auf Bitten der Tante hin begleitete, sorgte dafür, dass wir im überfüllten Zug allein über ein Kompartiment verfügen und schlafen konnten. Bei jedem Halt kauften wir Zuckerrohr und kauten darauf herum. Auf der Fahrt nach Assuan machten wir Station im düsteren Asyut. In einem Restaurant am Bahnhof bestellten wir auf Empfehlung des Wirts
Weitere Kostenlose Bücher