Mein Glueck
Krull in der Zeit schrieb, da Marcel Duchamp sein Urinal auf einen musealen Sockel stellen wollte. Dies wiederum fand statt, als Picasso für ein »papier collé« einer Reklame, auf die er in einer Zeitschrift stieß, den Begriff »voies urinaires« entnahm und in das Blatt einklebte. Anbetung und Banalität liegen eng beieinander, ja sind von nun an in der Kunst, das zeigt die fortuna critica Duchamps, eng miteinander verschwistert. Auf eine derartige fremde Nähe wäre ich in Wien wohl noch nicht gekommen, obwohl mir meine ganze Umgebung von früh an eine blühende Phantasie bescheinigte. Erst später, nach meiner Übersiedelung nach Paris, erfuhr ich, wie verlockend es sein konnte, Fehlstellen im Ablauf einer Geschichte mit immer neuen Kombinationen zu überbrücken. Ja, das Fehlende wurde dabei ausschlaggebend. Es regte zum Versuch an, all dem, was ich nicht wusste, was ich nicht wissen konnte, die Fremdheit zu nehmen. Zunächst war mein Vorbild Jean Paul. Der fabelhafte Einfall in Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal , die Klassiker und Wunschtitel, die der Held zu lesen begehrt, selbst zu imaginieren, erschien mir als bestes Mittel, der Lüge zu entkommen, die die intellektuellen Kreise beherrschte, in denen alle vorgaben, alles gelesen zu haben. Ein stimulierendes Nichtwissen: Was gibt es Besseres? Niemandem verdanke ich diese Erfahrung mehr als Max Ernst, der sich auf den Spitzen seiner ungewöhnlichen Kenntnisse über die Klüfte der Rechthaberei und der Gewissheiten vorzutasten vermochte.
Was den Aufenthalt in Wien so unerhört über alles hinaushob, was ich bisher erlebt hatte, das war nicht nur die Musik, das Theater, die imperiale Schönheit der Stadt, ihrer Paläste und Schlösser, sondern in erster Linie der häufige Besuch, ja mein regelrechter Aufenthalt im Kunsthistorischen Museum. Der Schock, den ich beim Betreten des Saals mit den Brueghels, durch Tizians »Nymphe und Schäfer« oder Tintorettos »Susanna im Bade« erfuhr, dauerte Tage und Monate an. Für mich war es später auch selbstverständlich, dass Thomas Bernhard in Alte Meister seinen Reger über dreißig Jahre lang jeden zweiten Tag auf eine Bordone-Bank vor den »Weißbärtigen Mann« von Tintoretto plaziert. Es gibt keinen besseren Stein des Anstoßes für die Scheußlichkeiten und Gemeinheiten, die man zusammenträgt und pausenlos anprangert. Dagegen gab es in Wien so gut wie nichts an neuerer Kunst zu sehen. Eines der späten Bilder van Goghs, das einzige Bild im Lande, schwarze Krähen, die über einem abgeernteten Getreidefeld kreisen, beschreibt die Dürre, in der sich dieses rückwärtsgewandte Wien damals eingerichtet hatte. Auch von Klimt und Schiele gab es kaum etwas zu sehen. Das wenige, was ich an Zeichnungen Schieles, die mich immer mehr als alles andere im Werk des Künstlers anzogen, kennenlernen konnte, schien in einer der außergewöhnlichsten Anstalten der Stadt eine Ergänzung, ja seine Begründung zu finden. Es war die Sammlung im Josephinum in der Währinger Straße, nicht weit von dem Haus entfernt, in dem ich wohnte. Die Sammlung anatomischer Wachsmodelle, fast so bedeutend und eindrucksvoll wie die der florentinischen La Specola, war von einer beängstigenden somatischen Intensität. Die in ihre Teile zerlegbare Venus und das Modell eines Herzens, dessen Kammern und Hauptschlagader, Papillarmuskeln, Hohlvenen, Aortenklappe, Koronargefäße wie Teile eines Baukastens vor dem Besucher ausgebreitet lagen, gaben mit einem Schlag dem, was wir im Kunsthistorischen Museum bewundern konnten, eine makabre Antwort. Ungewiss war der Abstand von Haut und Fleisch. Die Spannung zwischen der »Mediceischen Venus«, die im Josephinum ihre offenen, gläsernen Augen und ihren hellen mit einer Perlenkette geschmückten Hals auf den Besucher richtete, und den straffen Aktfiguren Cranachs, Tizians, Veroneses oder Tintorettos war kaum erträglich. Und ebendieses Spannungsverhältnis, in dem sich offene und geschlossene Körper begegneten, verlegte Schiele in seine Zeichnungen. Die roten und blauen Stifte, die er dabei verwendete, sorgten dafür, dass sich auf seinen Blättern die pulsierenden Arterien und der abgespannte, erschöpfte Fluss der Venen aus den Schaukästen des Josephinums wiedererkennen ließen. Es war eine Zeit, in der die Eindrücke ungeordnet und pausenlos strömten. Alles stürzte gleichzeitig auf mich ein. Und diese Entdeckung des Durcheinanders aus Raum und Zeit war stimulierend, aber
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