Mein Glueck
deshalb möglich, weil Henry Seyrig der Chefkonservatorin Adhémar Order gegeben hatte, mir diese Leinwände zu zeigen. Ich spürte rasch, wie mich diese Bilder störten, wie ich in ihnen einen Umgang mit rational bestimmter Diesseitigkeit entdeckte, den ich verabscheute. Auch konnte ich bald nichts mehr mit der standardisierten Ikonographie anfangen, die ich in so gut wie allen von Auftraggeber und Akademie kontrollierten Bildern wiederfand. Die ganze religiöse Produktion der Zeit der Aufklärung mit Hilfe der Iconologia des Cesare Ripa als verbindlichem Wörterbuch durchzudeklinieren fand ich rasch steril. Mich erheiterte jedoch, dass Cesare Ripa, während er als Küchenchef für Kardinale Salviati arbeitete, mit seiner Iconologia so etwas wie ein Rezeptbuch, eine unerschöpfliche, verbindliche Quelle für Künstler und Dichter zu liefern vermochte. Die Weltlichkeit, die in diesen Bildern auftauchte, hatte nichts mit den frühen religiösen Altarblättern Goyas zu tun, die in ihrem Umgang mit frommen Motiven eine ungesehene säkulare Dreistigkeit zeigten. »La última comunión de San José de Calasanz«, die ich in Madrid, in den Escuelas Pías de San Antón erstmals sah, ist Ausdruck einer radikalen Zäsur. Die Art und Weise, in der der Heilige der Hostie, die ihm gereicht wird, richtiggehend die Zunge herausstreckt, erschien mir von einem Nihilismus, der sich nicht überbieten ließ. In einem Brief unterrichtete ich Schrade von all dem, was mich im Zusammenhang mit dem Thema beschäftigte. Im März 1962 sandte er mir eine Antwort, die mich zunächst enttäuschte, dann jedoch wie eine Befreiung wirkte. Ich las: »An sich würde ich sehr gern mit Ihnen über Ihre Arbeit gesprochen haben. Denn briefliche Ausführungen bleiben doch immer unzureichend, und was ich aus den Ihren entnehme, lässt mich ein wenig befürchten, dass Sie sich allzu sehr ans Allgemeine halten. Das Allgemeine sollte das Endziel und nicht der Anfang sein. Ausgehen muss man immer von konkreten Tatsachen. Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir uns in absehbarer Zeit einmal des Längeren über Ihre Arbeit unterhalten.«
Inzwischen hatte ich beschlossen, nicht mehr nach Tübingen zurückzukehren, sondern in Paris mein Glück zu versuchen. Die vielen Aufträge, die ich erhielt, machten mich zuversichtlich, dass ich genug Geld für Monique und bald darauf auch für die Kinder verdienen würde. Monique hatte selbst, als Normalienne von Fontenay-aux-Roses, die bald die schwierige Aggrégation schaffte, eine hervorragende, sichere Position. Für einige Monate war sie zum Studium nach London gereist, um über Coleridge zu arbeiten. In dieser Zeit wurde ich jeden Abend von ihren Eltern zum Essen eingeladen und durfte erfahren, was die Cuisine française für Wunder birgt. Moniques Mutter kümmerte sich auf liebenswürdige Weise um mich. Sie überraschte uns auch später immer wieder mit ihrer Vorsorge und Lebensfreude. Unvergesslich, wie sie am Strand am Ärmelkanal so lange einen Hasen jagte, bis dieser erschöpft aufgeben musste. Monique lebte während des Studiums in England in einem Vorort Londons, in Southgate, in einer Pastorenfamilie. Das Haus lag in der Nähe des berühmten kreisrunden Untergrundbahnhofs von Southgate. Die Briefe, die sie mir von dort schickte, waren umwerfend komisch. Bei meinen Besuchen bekam ich auch mit, dass für den anglikanischen Vikar die bedeutendste Beschäftigung des Sonntags darin bestand, eine Hammelkeule zu tranchieren. Dann kam die Lustbarkeit, auf die alle warteten. Der Wellensittich Pip, »the good boy«, flog auf die Köpfe der Tischgesellschaft und verhedderte sich in diversen Haaren. Zu diesem eher stummen Zusammensitzen wurden dann und wann auch Seelen der Gemeinde eingeladen. Seinen Höhepunkt fand das Spektakel, dank der Präsenz eines glatzköpfigen Gasts, auf dem der Vogel keinen Halt fand und wo er seine bewunderten Rutschpartien begann. Das war das einzige Vergnügen, das mit dem Sonntagsfrieden vereinbar schien. Denn der Vikar hielt es für kaum vertretbar, dass Monique und ich am Sonntag in London Museen aufsuchten.
Ich verbrachte diese Zeit in Paris wieder im »Hôtel de Bourgogne« im Zimmer Nr. 13. Und ich notierte in einem Augenblick, da ich mich sehr elend und einsam fühlte: »Etwas genießen, ohne dass es Wirklichkeit ist. Erinnerung an Monique in Morsiglia, im Hof, Mittagessen. Sie geht zum Brunnen, um Wasser zu holen. Ständiges Denken an den Tod. Wäre ich wirklich allein, ohne alle
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