Mein Glueck
mir ein Freund, Wolf Mohr, aus Tübingen mitbringen. Doch es gab kein Schiff. Ich erfuhr, dass die geplante Überfahrt nach Bastia erst am nächsten Tag, dem 19. August, stattfinden sollte. Mir blieb nichts anderes übrig, als zum Bahnhof zu wandern. Dort wollte ich im Wartesaal die Nacht verbringen. Selbstverständlich hatte ich auch nichts zu essen und zu trinken dabei. Auf dem Weg zum Bahnhof muss ich einigermaßen niedergeschlagen gewirkt haben. Ich begegnete einer kleinen Gruppe von deutschen Schiffsleuten. Sie fragten mich, was denn mit mir los sei. Ich erzählte ihnen von meinem Malheur, und sie nahmen mich für die Nacht als blinden Passagier auf ihren Frachter mit. Allerdings durfte der Kapitän nichts davon erfahren. Ich verbrachte einen fabelhaften Abend an Bord, bekam gut zu essen, hörte unerhörte, märchenhafte Geschichten von fremden Ländern. Am folgenden Tag legte das große Fährschiff an. Die Freunde von der Universität in Tübingen, eine Gruppe von ungefähr fünfzig Mädchen und Jungen, waren inzwischen auch eingetroffen, und die nächtliche Überfahrt an Elba vorbei brachte uns in ein Paradies. Sicher, ich hatte bereits auf dem Weg nach Ägypten das Meer erlebt, doch jetzt begegnete ich ihm in seiner ganzen, kristallklaren Schönheit. Viele aus unserer Gruppe hatten so etwas gleichfalls noch nie gesehen. Schnell zogen wir uns in einer Bucht in der Nähe von Bastia aus und warfen uns ins Wasser. Dann ging die Reise mit einem Bus weiter nach Morsiglia. Wir kamen um die Mittagszeit des 20. August, es war ein Sonntag, in U Cunventu, einem ehemaligen Kapuzinerkloster aus dem fünfzehnten Jahrhundert, an. Der Bau lag ziemlich verlassen im Maquis. Zuvor hatten wir von den französischen Organisatoren einen verführerisch schön gedruckten, farbigen Prospekt zugeschickt bekommen, in dem all die Annehmlichkeiten des Aufenthalts beschrieben wurden. Minigolf, Eselreiten, Bootsfahren. Die Minigolfanlage lag in Trümmern, der Esel war zu schwach, um sich auf den eigenen Beinen zu halten, und dem Boot, das wir hätten ans Meer tragen müssen, fehlte der Boden. Der Zustand des ehemaligen Klosters und die hygienischen Verhältnisse waren mehr als ärmlich. Ein wenig Wasser tröpfelte gelegentlich aus dem Hahn. Der Schock für die verwöhnten Teilnehmer aus Deutschland war enorm. Sofort begann das große Jammern, die Meuterei. Das sei doch ein klarer Betrug. Zwei höhere Töchter aus Stuttgart, die Schwestern Rueff, heulten, zu Hause hätten sie drei Toiletten. Man solle uns sofort wieder nach Bastia zurückbringen, damit man dort aufs Festland übersetzen könnte. Dort gebe es für die Hälfte des Geldes, das uns abverlangt wurde, angenehme Hotels am Meer. Ich war zuvor viel mit Franzosen zusammen gewesen. In Paris hatte es nie Probleme gegeben. Jetzt prallten plötzlich zwei komplett unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. Das Unerbittliche bekämpfte das Legere. Sollte das uralte Klischee auch für uns junge Menschen gelten? Die Franzosen hörten sich die Klagen ziemlich gefasst an, aber irgendwie waren sie doch getroffen. Für sie zählten die herrliche Landschaft, die Ruhe, die Kameradschaft mehr als alles andere. Sie parlamentierten nicht und versprachen, man würde uns wieder nach Bastia zurückbringen. Doch, so schlugen sie vor, sollten wir uns doch erst stärken. Bald saßen wir, an die hundert Personen, um große Tische im Schatten von Eukalyptusbäumen. Uns erwartete ein grandioses Mahl. So ein Festessen war für uns in jeder Hinsicht eine riesige Überraschung. Wir hatten einen eigenen Koch, der aus dem Elsass stammte. Es gab gegrillte Langusten, Lamm am Spieß, Salate, geröstetes Brot, Käse, Desserts und dazu, aus kleinen Fässern, die auf den Tischen standen, tiefroten korsischen Wein. Rasch entspannte sich die Situation. Jeder war mit einem Schlag glücklich. Das Essen dauerte sicher länger als zwei Stunden. Man kam ins Gespräch, wechselte die Plätze, tanzte auf den Tischen und bezog schließlich die Zimmer. Von einer Abreise war überhaupt nicht mehr die Rede. Für die Mädchen gab es ein eigenes Lager im ehemaligen Sarazenenturm, ein Steinwurf von unserem Kloster entfernt. Am Nachmittag, als die große Hitze überstanden war, ging es erstmals nach Centuri, zur Küste, zum Strand bei Mute. Der Weg führte durch den Maquis und durch das Flussbett des Guadi, der im Sommer kein Wasser führt. An manchen Stellen überragten uns der Maquis in Form von einigen Steineichen und Stechwinden.
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