Mein Glueck
gehütete Betriebsgeheimnisse zersplittert war, zu eigen machen, springt sofort ins Auge: Auf allen Stichen ist der Mensch zu sehen, überall ist die Welt vom Menschen in Besitz genommen. Es gibt keine Tafel, die nicht auf Hände und Arbeit verweisen würde. Alles, was diese Publikation enthält, bestätigt die konkrete Welt und die herausragende Rolle des Menschen. Diderot hat im Artikel »Encyclopédie« Welt und Mensch aneinandergekettet: »Verbannt man den Menschen oder das denkende und betrachtende Wesen vom Erdboden, wird aus dem pathetischen und sublimen Schauspiel der Natur eine traurige und stumme Szene. Das Universum schweigt … Alles verwandelt sich in eine weite Einsamkeit, in der die ungesehenen Phänomene auf dunkle und stumme Weise geschehen. Die Gegenwart des Menschen macht die Existenz der Dinge interessant.« Gibt es ein überzeugenderes Plädoyer für den Sensualismus, dafür, dass die Kenntnis der Dinge nur durch unsere Sinne möglich ist? In den Tafeln steht der Mensch vor der Welt – aber nicht nur vor der Welt, die er selbst zustande gebracht hat, sondern auch vor der der natürlichen Güter. Mit gleichsam besitzanzeigendem Stolz stellt er sich neben die Natur. Er ist dabei, die Welt zu domestizieren. Dies alles fand ich neu und erregend. Ich recherchierte und korrespondierte 1962 auch mit Jacques Proust, Professor in Montpellier, der im selben Jahr den Band Diderot et L’Encyclopédie veröffentlicht hatte. Doch ich verfing mich im Labyrinth, suchte ihm zu entkommen und strebte schließlich einem Ausgang zu. Doch mein Versuch war nicht umsonst. Er hatte mir die Augen für etwas geöffnet, auf das ich später stoßen sollte: Max Ernsts Collagen, die auf diese uferlose reproduzierte, visuell versprachlichte Welt zurückgreifen. Der Titel meines Buches, Inventar und Widerspruch , spielt auf einen enzyklopädischen Hintergrund an.
In der Tübinger Zeit lektorierte ich während des Studiums weiterhin Texte für die Hörspielabteilung und fertigte Gutachten an. Und ich schlug schließlich vor, im Juli 1960 für einige Tage nach Paris zu reisen, um Autoren aufzusuchen und für eine Mitarbeit zu gewinnen. Der Vorschlag wurde angenommen, und ich setzte mich erstmals in ein Flugzeug, das mich nach Le Bourget brachte. Im Oktober kam es zu einer zweiten Reise.
Die entscheidende Wende in meinem Leben, das große Glück, fiel ins Jahr 1961 , in den August. Es ging zu einem Ferienaufenthalt nach Korsika. Dort fand das erste deutsch-französische Treffen von Studenten in der Nachkriegszeit statt, im Norden, am Cap Corse. Auf der Reise nach Livorno, von wo aus ich das Schiff nach Bastia nehmen sollte, blieb ich einige Tage in Florenz. Ich traf mich dort mit dem Freund Artur Rosenauer. Wir wohnten in dessen Lieblingspension, der Locanda von Signora Gatteschi an der Piazza San Lorenzo. Das Pensum, das wir uns auferlegt hatten, war immens und duldete keine Unterbrechungen. Nur einmal kam es zu einer Art Zwangspause, weil wir direkt aus einer voluminösen Korbflasche mit Weißwein, aus der oben ein Strohbüschel herausschaute, getrunken hatten. Wir wussten nicht, dass diese Flasche statt mit einem Korken mit Öl verschlossen war. Jeder nahm einen kräftigen Schluck, und uns beiden wurde daraufhin für Stunden speiübel. An einem Nachmittag beschlossen wir, der unerträglichen Hitze in der Stadt zu entfliehen. Wir besuchten das Freibad. Und hier wagten wir beide zum ersten Mal einen Kopfsprung ins Wasser. Ich weiß nicht, was die Italiener dachten, als sie uns mit deutschem Eifer unaufhörlich dieselbe Bewegungsfolge üben sahen. Doch um in Korsika ins Wasser zu gelangen, war dieser Sprung, wie sich zeigen sollte, die unumgängliche Voraussetzung. In Florenz erlebten wir den Tag des Mauerbaus. Wir saßen am Vormittag des 13. August neben Benvenuto Cellinis »Perseus mit dem Medusenhaupt« in der Loggia dei Lanzi und lasen die Berichte. Genaueres erfuhren wir nicht. Das war für uns eine Nachricht aus einer fernen Welt. Über Pisa fuhr ich am 18. August mit der Bahn nach Livorno zum Hafen, von wo aus ich nach Korsika übersetzen sollte. Artur brachte mich zum Bahnhof. Während des Aufenthalts in Pisa bestieg ich den Schiefen Turm, besuchte den Camposanto, das Baptisterium und den Dom mit Giovanni Pisanos Kanzel. Mit meinen allerletzten Lire kaufte ich die Fahrkarte nach Livorno. Dort wollte ich sofort nach der Ankunft aufs Schiff gehen. Alles Geld, das ich für die Reise nach Korsika zurückgelegt hatte, sollte
Weitere Kostenlose Bücher