Mein Glueck
Zeitabschnitt im Leben eines Menschen beschrieben wird … Bei Sartre ist die Begegnung mit dem Nicht-Ich stark rhythmisiert, von einer Art negativer moments privilégiés durchbrochen …« Und ich fuhr weiter fort: »Wir haben die Möglichkeit, tausend Verhaltensweisen, tausend Arten zu gestalten, tausend Arten zu sehen, gleichrangig zu sehen – ohne das Bedürfnis, sie zu bewerten. Wir haben die Möglichkeit. Und von dieser Seite kommt mein Einwand und eine Art Aussicht, eines Tages dieser pluralistisch-relativistischen Sicht zu entkommen: Wir haben die Möglichkeit dazu, aber nicht die Fähigkeit, da unser Sein streng positionell ist. Unter positionellem Sein verstehe ich, dass ein jegliches Bewusstsein nur ausschnitthaft sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt. … In diesem Gerichtetsein auf etwas wird alles andere ausgeschaltet, vernachlässigt. Die Momentaneität ist die Feinstruktur dieser Vernachlässigung durch das positionelle Sein. Alles kommt darauf an, das positionelle Sein spürbar zu machen, das heißt, die Indifferenz punktuell zu durchbrechen. (Nicht durch eine neue Art von moments privilégiés, da diese Art von Erlebnis zu stark auf der Seite des Subjekts haftet.) Phänomenologisch wäre dies etwa so zu leisten, dass man in einem beliebigen Augenblick sein positionelles Sein errechnet, fassbar macht, es durch Subtraktion gewinnt, indem man dem Augenblick der wertfreien und ontologisch unbekümmerten Betrachtung all das gegenüberhält, was man im Augenblick (durch die bestimmte Position) vernachlässigt.« Und ich schloss die lange Passage folgendermaßen: »Positionelles Sein wäre also das punktuelle Sich-Bewusstwerden, dass die Objekte zwar hypothetisch alle gleichermaßen vorhanden und verfügbar sind – im Moment des Erlebens aber vergessen werden: Aus diesem Erlebnis der Dingvergessenheit könnte uns unser Sein als etwas Unverwechselbares aufgehen. Sozusagen ein definierter Moment, ausgespart durch das gleichzeitig Nicht-Mögliche (für uns selbst und die andern in geschichtlicher Sicht, nur für die anderen in soziologischer Sicht), nicht-aktuelle Sein, ein Sein, das dem Nichtgewordenen, Verpassten, Nur-virtuell-Möglichen entgegensteht.« Dahinter steckte die Ahnung, dass Logik und Begriffe nur einen Teil unseres Lebens erfassen können. Aufklärung und Rationalismus, die mich inmitten meiner unsystematischen Suche nach Religion und Transzendenz gepackt hatten, mussten hinter meine neuen Erfahrungen zurücktreten. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, so etwas wie das richtige, sinnlich auf mich eindringende, anschauliche Leben kennenzulernen. Ich habe mich in den kommenden Jahren immer wieder mit Bollnow in seinem Haus in Tübingen getroffen. Er hörte überaus geduldig meinen Berichten über die zeitgenössische französische Literatur zu. Später begegnete ich ihm noch einmal in Venedig, auf der Riva degli Schiavoni. Ich eilte schnell und begeistert ins Hotel zurück und fragte Monique und unsere kleine Tochter Alexandra überglücklich: »Wen, meint ihr, habe ich eben getroffen?« Überaus lässig meinte Alexandra: »Sicher Goethe.« Im Fach Kunstgeschichte hielt ich in der Tübinger Zeit bei Schrade ein Referat über die Pilgerstraßen nach Compostela und deren Bedeutung für die Verbreitung der romanischen Architektur und Plastik. Im düsteren Seminarraum im Untergeschoss, in den eine steile Holztreppe hinabführte, saßen wir zusammen. Wir waren nie mehr als fünfzehn Studenten. Die fünfschiffige Anlage von Saint-Sernin in Toulouse war das zentrale Thema unserer Diskussionen. Schrade meinte, ich könnte doch eine Dissertation bei ihm schreiben. Ich dachte an das Thema »Sturm« im Zusammenhang mit den Sintflutdarstellungen. Schließlich schlug Schrade mir vor, über die Ikonographie der religiösen Malerei der Aufklärung in Frankreich zu arbeiten. Doch die Beschäftigung mit Charles-Nicolas Cochin, dem man das Frontispiz der Encyclopédie verdankte, mit Jean-Jacques Lagrenées »Repos de la sainte Famille pendant la fuite en Egypte« oder mit Doyens »Sainte Geneviève et le Miracle des Ardents« in der Kirche Saint-Roch fesselten mich nicht wirklich. Und die Riesenformate, die seit Jahrzehnten zusammengerollt in den Depots des Louvre lagerten und die Hélène Adhémar vor mir ausbreiten ließ, stießen mich mit ihren kalten, tausendmal gesehenen Szenen sofort ab. Die wirklich umständliche und letztlich sinnlose Verifizierung des Materials in den Kellern des Louvre war auch nur
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