Mein Glueck
sowie Georges und Hilde Schlocker zählten. Während dieser Lehrstunden wuchs aber auch meine Überzeugung, dass es keine definitive Lösung für die Übersetzung in eine andere Sprache geben kann. Tophovens Notizen dokumentieren, wie seine Texte ständig im Fluss blieben. Dem Original gegenüber kann, ja muss Übertragung fluktuieren. Die Notwendigkeit, immer neue Varianten zu finden und Revisionen vorzunehmen, setzte niemand in seinen Übersetzungen besser um als Tophoven. Das so gewonnene Wissen um die Relativität jeder Textversion nahm mich gefangen.
Bestätigt sah ich mich durch Michel Butors und Henri Pousseurs Oper »Votre Faust«, die es dem Publikum überließ, über Fortgang und Ende des Dramas zu entscheiden. Michel Butor arbeitete mit einer wahren Begeisterung für den Süddeutschen Rundfunk. Ich brachte ihn in Stuttgart mit Rudolf Hoflehner zusammen, dem großartigen Bildhauer, den man heute augenscheinlich vergessen hat. Die Anregung, beide sollten doch ein Buch zusammen machen, führte zu dem eindrucksvollen Tourmente: Aufruhr . Das Buch mit elf Radierungen erschien 1968 in der Manus Presse. Man könnte von Butors System der sonoren Perzeption sprechen. Auch Albers und Vasarely, mit denen ich über Butors Mutationen von Formen sprach, interessierten sich überaus für diesen Autor. Wie man im Falle Vasarelys und im Falle der »strukturellen Konstellationen« Josef Albers’ von einer optischen Aggressivität sprechen könnte, so begegnet man im Falle Butors einer akustischen Aggressivität, die die Adaptationsfähigkeit des Ohrs ebenso wie seine Unfähigkeit zur Adaptation oder zur Identifikation einschließt. Ein wichtiges Konstruktionsprinzip in den Arbeiten Butors ist der Rückgriff auf Elemente, die seriell eingesetzt und im Laufe der Arbeit permutiert werden. Die immer gleiche Struktur der ständig wiederkehrenden, einem bestimmten Ablauf folgenden Sätze, Motive, Namen, Geräusche, Klänge bilden auf der Perzeptionsebene Einheiten, an die wir uns gewöhnen und die wir nach und nach in ihrem Wechsel identifizieren. Auch Robbe-Grillets Hörspiel, das der, auch wenn ich ihn immer wieder danach fragte, leider nicht zu Ende bringen konnte, sollte von der starken Beziehung zwischen Geräuschen, die wie Musik verwendet wurden, und Stimmen leben. Die Disproportion zwischen Geräusch und Stimme sollte stark sein wie die Disproportion zwischen Bild und Dialog in seinem Film »L’Immortelle«, in dem der Dialog zusammengerechnet nur wenige Minuten dauert.
Das erste Hörspiel Butors, das er mir für Stuttgart übergab, »Réseau aérien«, folgt darüber hinaus einem weiteren Prinzip, das auch in der aktuellen Malerei wichtig geworden war: dem Spiel mit Varianten. Dieses führt, wie das der optischen Überreizung, zu einer Art Überforderung des Ohrs. Der Hörer muss sich mit einer ungewohnten Konzentration im Bereich Klang und Bedeutung orientieren. Butor stieß zwangsläufig zu einem Genre vor, dessen Gesetze und Möglichkeiten ihn eine Form verwenden ließen, die weder im Theater noch im Roman möglich war. Der Hörer muss sich mit einer ungewohnten Konzentration zwischen Klang und Bedeutung orientieren. Sein Hörspiel ist das logische Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Formproblemen, die bereits in seinem ersten Roman, Passage de Milan , angelegt war. Gleichzeitigkeit, eine Allgegenwart, die das Individuelle vor dem Hintergrund einer allgemeinen Aktion zeigt, stellt auch hier das Thema. In »Réseau aérien«, »Fluglinien«, geht dieser Hunger nach Simultaneität nicht mehr vom vertikalen Schnitt durch die Wohnungen eines sechsstöckigen Wohnhauses aus, sondern vom Spiel mit Zeit- und Raumpartikeln in zehn Flugzeugen, in denen die Personen den Erdball, den sie umkreisen, mit einem Spinnennetz aus Worten umgeben.
Bald nach meiner Ankunft in Paris traf ich Jean Tardieu, Michel Butor, Ionesco und auf dringende Empfehlung von Beckett den heute völlig unterschätzten Robert Pinget, der mir einige Stücke für die Hörspielabteilung übergab. Und neben Aimé Césaire, Jean Cayrol, Jacques Prévert lernte ich auch Armand Salacrou kennen. Der lebte herrschaftlich in einer geräumigen Wohnung in der Avenue Foch, umgeben von kubistischen Bildern seiner Freunde Juan Gris und Raoul Dufy. Er konnte sich das Sammeln leisten, da sein Vater vor allem während des Ersten Weltkriegs mit dem Patent und der Produktion eines äußerst wirksamen Mittels gegen Läuse, das die schöne Bezeichnung »Marie-rose« trug,
Weitere Kostenlose Bücher