Mein Glueck
verzweifelten »Kampf Jakobs mit dem Engel« von Delacroix. Oder aber wir machten Rast bei Corots »Taufe Christi« in der ersten rechten Seitenkapelle von Saint-Nicolas du Chardonnet, die etwas von der blonden Stille ausstrahlt, der man in Cima da Coneglianis Version des Themas in Venedig, in San Giovanni da Bragora, begegnen kann. Audiberti war vom Surrealismus angezogen, der für mich damals noch weitgehend ein Buch mit sieben Siegeln war. Doch ein Mitglied der Gruppe um Breton war er nie geworden. Er zeichnete und malte nebenher. Zur Hochzeit übergab er Monique und mir ein grünes Blatt, in dessen Zentrum ein tanzendes Paar in einem Kreis auftritt. Die Mischung aus Teufelei und Engelsreigen entsprach seinem spielerischen Witz, der mit höchster Geschwindigkeit von einem zum anderen Thema zu springen vermochte. Dies betraf auch seine zahlreichen Kommentare zur Politik und zum Zustand von Sprache und Gesellschaft, die manchmal in einem einzigen Wort zu mächtigen Karambolagen führten. So wenn er mit Abscheu vom »télémarxisme« seiner Zeitgenossen sprach, die ihr Engagement vom Sofa aus, als Unterzeichner von Unterschriftenlisten, aus ungefährdeter Distanz betrieben. Mit wirklicher Sorge, mit Wut blickte er auf den Zustand der Sprache – wie Max Ernsts Freund Etiemble bekämpfte er unerbittlich den Mischmasch »Franglais«. Immer wieder breitete er seine Funde aus. Als groteskes Beispiel für die Art und Weise, wie in seinen Augen die Sprache Luthers und Goethes zu verkommen begann, präsentierte er einen Fund aus der Schweizer Weltwoche , ein Anzeigentext mit folgendem Wortlaut: »Eau de Cologne meravigliosa for men in einer Krystallflasche«.
Auch zu Marcel Aymé, dem populären Autor von Le passe-muraille ( Der Mann, der durch die Wand gehen konnte ), der damals hinter Montmartre, in der Rue Paul Féval im 18. Arrondissement wohnte, führte mein Weg. Sein Montmartre ist weniger spektakulär und längst nicht so malerisch wie das von Jacques und Jeannine Prévert, deren Wohnung, in der auch Boris Vian gelebt hatte, von der großen Terrasse hinter den Windmühlenflügeln des »Moulin Rouge« profitiert. Man hatte mir Aymé, der zwischen seinen Büchern voller Witz und Charme lebt, als schwerfälligen, wortkargen, als Mann von geradezu pflanzenhafter Schweigsamkeit geschildert. Doch er sprach sehr wohl. Allerdings war die Konversation mit ihm hart, anstrengend. Immer wieder entstanden Pausen, und in jeder Pause hatte ich das Gefühl, das Gespräch sei vielleicht schon beendet. Man brauchte einige Zeit, bis man sich darüber im Klaren war, dass Pausen bei Aymé etwas anderes bedeuteten als Unfreundlichkeit. Er holte Atem in dieser Zeit, regenerierte sich, blieb dabei aber ganz wach. Das zeigten die Augen. Er war sehr ruhig beim Reden. Ab und zu nahm er einen Gegenstand in die Hand, ein Federmesser, ganz langsam, ohne Nervosität, er wägte es abwechselnd in der einen und in der anderen Hand, legte es weg, ohne eine entschiedene Gebärde, ganz beiläufig, und sagte etwas über sein Tun, seine Bücher und dass er keine ernsthaften Anstöße fürs Schreiben habe. Ich fragte nach. Er lächelte. Das Lächeln kam ganz langsam zustande, in Zeitlupe. Er öffnete dazu halb den Mund, zeigte seine Zähne, Pferdezähne. Eine Spur Pferd lag in diesem Gesicht. Er meinte: »Die Ernsthaften, das müssen wohl die sein, die die Welt ändern wollen. Die eine Botschaft verkünden.« Dann machte er eine Pause und sagte: »Ich hab’ keine Botschaft.« Und über das Dauerthema Engagement konnte er nur lästern: »Engagement, was ist das?« Kann man einer Seite anhängen, Partei ergreifen, ohne irgendwie der Absurdität zu verfallen? Scheinprobleme von der Sorte »Ist es zulässig, dass man auf der Terrasse des ›Flore‹ Whisky trinkt, während täglich tausend Chinesen an Durst zugrunde gehen« ließen ihn kalt.
Die Rhetorik vom Engagement verkam zur leeren Geste. Immer wieder lancierte Sartre den Streit, der dann im Mai 68 für einige Wochen völlig sein dialektisches Potential einbüßte. Claude Simon griff ein und antwortete in der Wochenzeitung L’Express Sartre, der geschrieben hatte, man könne zwar in einer Welt, in der Menschen an Hunger zugrunde gehen, Kafka verstehen, dagegen sei es das Vorrecht einer privilegierten Schicht, die Romane von Robbe-Grillet oder Claude Simon zu lesen. Claude Simon fand Sartres Forderung, man müsse für einen breiten Leserkreis schreiben und sich bei vielen Gehör verschaffen,
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