Mein Glueck
Einaktern und ebenso einprägsamen wie jähen Reflexionen reiches Werk ist in das Unterbewusste der Zeit eingegangen. Denn es gibt, abgesehen von La Fontaine, keinen anderen Dichter, der die Franzosen von Kindesbeinen an auf so nachdenkliche und witzige Weise begleitet. Er kümmerte sich von Anfang an auf rührende, väterliche Weise auch um mich und meine Familie. Und als es im Sommer nach der Geburt unseres Sohns Patrick in unserer kleinen Wohnung an der Place du Marché Saint-Honoré unter dem Dach unerträglich heiß und stickig wurde, verfrachtete er uns von einer Stunde zur anderen in sein Auto und brachte uns für Wochen in sein Landhaus nach Villiers-sous-Grez. In dem Dorf am Rande des Waldes von Fontainebleau, in das sich später auch Teeny Duchamp nach Marcels Tod zurückzog, verbrachten wir wiederholt sorglose, glückliche Tage. Teenys Tochter Jackie Matisse-Monnier baute dort ihre phantasievollen Drachen, die nicht nur die Luft eroberten, sondern auch in Interieurs und unter Wasser ihre farbigen Ornamente entfalteten. Diese Fertigkeit im Umgang mit dünnem Holz und Papier ging sicherlich auch auf ihre jahrelange Zusammenarbeit mit Marcel Duchamp zurück, dessen Exemplare der »Boîte-en-valise« sie mit einer Engelsgeduld zusammensetzte.
Das Kammertheater von Jean Tardieu , das in den fünfziger Jahren erschien, hat Generationen von Theaterleuten inspiriert. Dies geschah zu einer Zeit, als das metaphysische Spiel, das mit Witz, Verkehrung und scheinlogischen Schlüssen arbeitete, die französische Nachkriegsintellektualität in ihrer Rechthaberei zu stören begann. Tardieu gehörte zu den wenigen, die der ideologischen Festlegung entgingen. Bei ihm kontern absurde Formeln und Denkspiele immer wieder den hohen Ton. Nehmen wir allein seine Slapsticks, in denen er wie Lewis Carroll mit der Logik spielt. Immer wieder taucht eine Lichtenberg’sche Note auf, die auch die pseudowissenschaftlichen Dada-Texte von Hans Arp und Max Ernst charakterisiert: »Gegeben ist eine Mauer, was passiert dahinter?« oder »Gegeben sind zwei gleich weit voneinander entfernte Punkte A und B. Wie kann man B verschieben, ohne dass A es merkt?« Hinter alldem verstecken sich Dramen im Miniaturformat. Sie wurden auch Ausgangsmaterial für die Texte, die er mir für den Rundfunk gab. Das Verdrehen von Wörtern und Meinungen mündete in unauflösliche Rätselhaftigkeit. Das Rezept dafür legte er seiner Kunstfigur, seinem Alter ego Monsieur Monsieur , in den Mund: »Nehmen Sie ein gebräuchliches Wort. Legen Sie es gut sichtbar auf einen Tisch und beschreiben Sie es: von vorn, von der Seite, aus dem Halbprofil.« Dieser Doppelgänger, der Professor Froeppel, ist eine Kunstfigur aus Pedanterie und umwerfender physischer Komik. Froeppel lebt, wie Michaux’ Plume, in der Höhenluft, in der das Erzählerische erstickt.
Als wir uns kennenlernten, wohnte Tardieu in einem kleinen Haus, in einem Hinterhof des Boulevard Arago. Nur einige Schritte weiter erhoben sich die düsteren Mauern der »Santé«, des Gefängnisses, das auch Beckett so stark bedrückte. Die Concierge, die bei den Tardieus arbeitete, war mit einem Gefängniswärter verheiratet. Dadurch kam es zu einem ungewollten Kontakt. Jean erfuhr, dass die Frau Bücher aus seiner Bibliothek regelmäßig an Gefangene auslieh, und wunderte sich, als sie berichtete, es sei doch seltsam, dass ihr Mann genau dieselbe Wäschegröße habe wie er. Erst später merkte Marie-Laure, dass Stück für Stück auch das bestickte Weißzeug aus den Schränken verschwand und gegen billiges getauscht wurde. Tardieu war betrübt, dass ihn die Concierge, nachdem man ihr auf die Schliche gekommen war, nicht mehr grüßen wollte. Er ertrug alles mit Humor. Im Geiste von Voltaires Candide, der wie Leibniz davon ausging, in der besten aller nur möglichen Welten zu leben, nahm er das Unglück auf die leichte Schulter. Unaufhörlich erlebten wir mit ihm komische Situationen, nicht zuletzt wenn er feststellte, dass ihn der Aufprall auf ein anderes Fahrzeug von den Schmerzen eines festgeklemmten Nervs im Rücken erlöst habe. Immer wollte er umziehen. Sein Traum war ein Besitz in Italien. Er hatte ein mächtiges Landhaus in Altivole in der Provinz Treviso im Auge. Jahrelang sprach er von seinem Plan, dort ein Zentrum für europäische Künstler und Schriftsteller zu gründen.
So kam es auch zu einer Einladung zu einem Schriftstellerkongress in Rom an mich. Inzwischen war ich, nachdem ich mit ihm zusammen ein
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