Mein Glueck
Begegnung zu machen, wurde nichts. In den Immobilienagenturen halb Frankreichs war Jean Tardieu verschrien. Nie konnte er sich für den Erwerb eines Hauses entscheiden. Eines Tages unterschrieb er beim Notar schließlich doch ein Kaufversprechen. Als er aber nach dem notariellen Akt erneut zu dem kleinen Landhaus, das er erwerben wollte, zurückkehrte, entdeckte er mit Entsetzen, dass dieses auf einer Seite an einen Friedhof grenzte. Das machte ihm so sehr zu schaffen, dass er lieber auf die Anzahlung verzichtete, als diese Nachbarschaft zu ertragen. Später wechselten Marie-Laure und Jean in Paris aus ihrem Pavillon im Garten in die gegenüber gelegene, höhere Etage eines Neubaus am Boulevard Arago. Von ihrer neuen Wohnung blickten sie auf die Wohntürme, die den Himmel in Richtung Süden verstellten. Jean war ein Gejagter. Seine Schlaflosigkeit verarbeitete er in vielen Texten. Unaufhörlich fuhr er mit dem Fahrstuhl zwischen der Wohnung und einem kleinen Studio, das einen Stock tiefer lag, hin und her. In den Augen und in der unverkennbaren bildhaften Imagination Jean Tardieus verwandelte sich die trostlose Kulisse in ein erschreckendes Phantasma, dessen Schrecken sich aus dem Bild der »Türme von Trapezunt« nährte. Er verglich diese vertikalen Barrieren aus Beton und Glas mit der »Città di cristallo«, die Pisanellos Darstellung vom Kampf des heiligen Georg gegen den Drachen als Hintergrund dient. Die Pariser Wohnkristalle, in denen nachts ruhelos Lichter an- und ausgehen, wurden im Text zum Symbol für die anonyme Menschenfresserei des Lebens. Der Autor notierte diesen erschütternden späten Text einen Steinwurf weit von dem Ort, an dem Beckett lebte. Wie alle, die den Clown spielen, war er todtraurig und letztlich ohne Hoffnung.
Unvergesslich waren die Begegnungen, die ich zwischen Jean Tardieu und Max Ernst vermitteln konnte. Drei fabelhafte Bücher sprechen davon. Zu sechs Lithographien von Max Ernst, die 1939 für Éluards »Chanson complète« entstanden waren und die nie ediert wurden, schrieb Tardieu die Folge von sechs Gedichten Le parquet se soulève , dem schloss sich Désert plissé , das Faksimile eines Skizzenbuchs von vierundzwanzig Frottagen, an. Max Ernst schuf zu dem Text Tardieus zwei Originallithographien. Den Höhepunkt bildete die zweisprachige Publikation von »Seelandschaft mit Kapuziner«. Eduard Trier hatte Max Ernst den fabelhaften, mehrfach gebrochenen Text »Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner« zu Friedrichs Mönch am Meer mitgebracht. Die Szenen zwischen Kunstsachverständigen, zwei jungen Damen, einem Herrn und einer älteren Dame vor dem Bild sind von einer erschütternden Komik. Kleists beispielloser Kommentar, in dem er schreibt, dass dies ein Sehen sei, »als wären einem die Augenlider weggeschnitten«, erschütterte Max Ernst. Das großartige Bild, das auf die surrealistische Blendung bei Buñuel vorausweist, kann als Vorwegnahme für Max Ernsts Konzept vom »inneren Gesicht« angesehen werden. Da wir keine französische Version fanden, machten wir uns zu dritt daran, die Texte zu übertragen. Max versah die Ausgabe mit einer Lithographie, die die immense Weite von Auge und Meer zusammenfasste, und mit sechs Collagen, die die Geschwätzigkeit im Kunstsalon vor dem Bild einzufangen suchten.
Diese drei Bücher verlegte unser gemeinsamer Freund Hans Bolliger in Zürich, der »Weltbibliograph« der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Max liebte es, mit Hans über Freundschaft zu sprechen, über die tiefe Freundschaft, die ihn mit Hans Arp verbunden hatte. Aber was das Zusammentreffen mit Hans Bolliger und Max Ernst von so vielen anderen Begegnungen unterschied, war etwas, was ich die Notwendigkeit nennen möchte. Und in der Tat brauchten wir Hans bei der Erstellung des Œuvre-Verzeichnisses der Bücher und Grafiken von Max Ernst. Dieses von Helmut Leppien bearbeitete Werkverzeichnis wurde durch die Genauigkeit, mit der Hans Bolliger vorging, erst in seiner Klarheit möglich. Von allen Menschen, die mit Büchern zu tun hatten, unterschied sich Hans in einem ganz entscheidenden Punkt: Für ihn war dieser Umgang mit einem unerhörten Leben erfüllt. Deshalb war es auch wichtig, dass sich Hans Bolliger in erster Linie auf Dokumente beschränkte, die mit seiner eigenen Zeit verbunden waren. In diesem Punkt rückte er in die Nähe von Carola Giedion-Welcker, die sich, wie kaum eine andere Persönlichkeit ihrer Generation,
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